Bonn - Filmfestival 2008

Internationale Stummfilmtage Bonn


vom 14. bis 24. August 2008

Reihe: Retrospektive

Berlin, Symphonie einer Grosstadt

(Berlin, Symphonie d'une grande ville), Regie:   Walter Ruttmann, Deutschland - 1927
Regisseur: Walter Ruttmann - Drehbuch: Carl Mayer - Kamera: Robert Baberske - Karl Freund - Reimar Kuntze - Walter Ruttmann - Laszlo Schäffer - Musik: Edmund Meisel - Schnitt: Walter Ruttmann -

The Big Parade

(Die grosse Parade, Die Parade des Todes), Regie:   King Vidor, USA - 1925
Produktion: Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) - Verleih: Universum-Film AG (UFA), Berlin (Deutschland) - Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) - Produzent: King Vidor - Irving Thalberg - Regisseur: King Vidor - Drehbuch: Harry Behn - Nach einer Vorlage von: Laurence Stallings - Kamera: John Arnold - Charles Van Enger - Musik: Carl Davis restaurierte Version - William Axt - David Mendoza - Schnitt: Hugh Wynn - Architekt: Cedric Gibbons - Kostümbild: Ethel P. Chaffin - Darsteller: Julanne Johnston Justine Devereux - Renée Adorée Melisande - George K. Arthur George - Carl Voss Officer - Carl 'Major' Roup Doughboy - Dan Mason - Kathleen Key Miss Apperson - Harry Crocker Doughboy - George Beranger - Rosita Marstini French Mother - Hobart Bosworth Mr. Apperson - Tom O'Brien Bull - Robert Ober Harry - Claire Adams Justyn Reed - Karl Dane Slim - John Gilbert James Apperson - Claire McDowell Mrs. Apperson -
Inhaltsangabe : Jim Apperson, Sohn eines reichen Unternehmers, ist ein Tunichtgut. Sein Vater und sein Bruder Harry drängen ihn, endlich in den Betrieb einzutreten, aber umsonst. Bei einer Parade zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten springt die Kriegsbegeisterung auf ihn über und er mustert an. Wie ein Held wird er von seiner Familie und seiner Freundin Justyn verabschiedet. In Frankreich werden sie auf dem Land stationiert. Jim und das Bauernmädchen Mesalinda verlieben sich ineinander; aber ihr wird klar, dass Jim nicht bei ihr bleiben wird. Die Soldaten werden an die Front berufen. Jim erlebt den Krieg als puren Horror. Schwer verletzt wird er ins Lazarett eingeliefert, wo ihm ein Bein amputiert wird. Als er hört, dass er nur sechs Kilometer von Mesalindas Hof entfernt ist, schleppt er sich aus dem Lazarett... (Deutsches Historisches Museum)

Amerika 1917: Jim Apperson ist ein verwöhnter Bursche ohne große Ambitionen. Als die Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg eintreten, beschließt er, sich freiwillig zur Armee zu melden. Während seiner Stationierung in Frankreich verliebt er sich in das Bauernmädchen Mélisande. Doch dann werden Jim und seine Kameraden Slim und Bull aus dem Hinterland an die Front geschickt und mit der Grausamkeit des Kriegs konfrontiert. Während seine Kameraden auf dem Schlachtfeld sterben, findet Jim sich in einem Lazarett wieder. Ohne ein Lebenszeichen von Mélisande kehrt er verbittert nach Hause zurück. - Doch schon bald erkennt er, dass ihn nichts in seiner alten Heimat hält. Er geht nach Frankreich zurück, um nach seiner großen Liebe zu suchen. (3Sat Presse)
Kritiken : «Nun ist trotz aller Proteste der grosse amerikanische Film zum erstenmal in einem deutschen Lichtspieltheater gelaufen, wenigstens offiziell. Es muss festgestellt werden, dass in der jetzigen Bearbeitung nichts mehr übrig geblieben ist, was irgendwie Anlass zu Bedenken oder Beschwerden geben könnte, es muss aber ebenso betont werden, dass die jetzige Fassung nicht mehr mit dem Original übereinstimmt, dass vielmehr jetzt eine revidierte, geläuterte Ausgabe vorliegt, die nichts mehr mit Deutschfreundlichkeit oder Deutschfeindlichkeit zu tun hat, aus der vielmehr alles, was Partei sein könnte, restlos geschieden ist.

Was jetzt übrig blieb, ist eine Liebesgeschichte. Die Erzählung von dem Engländer oder Amerikaner, der sich in eine Französin verliebt, der sie auch heiraten möchte, wenn nicht gerade im entscheidenden Augenblick ein Brief von der Braut überm Wasser einträfe.

Er zieht in die Schlacht, wird verwundet, kommt am Kriegsende nach Hause, wo sich herausstellt, dass die Braut inzwischen den Bruder liebergewonnen hat wie ihn.

Er selbst, verkrüppelt, kehrt nach Frankreich zurück, um das Mädchen, das er während des Krieges liebgewann, als Frau nach Hause heimzuführen. Selbstverständlich liegt der grosse Wert dieses Films nicht etwa in der Handlung, vielmehr in der ganzen Art, wie dieses Bild dargeboten ist. Die schauspielerischen Leistungen bewegen sich auf beachtlicher Höhe. Die reinen Spielszenen sind von tiefer Wirkung, eindringlich und selten gut gesteigert. Dazu gibt es die beliebten amerikanischen grossangelegten Kriegsbilder. Pulverdampf, Kugelregen, Tanks, Nahkämpfe im Schützengraben, Leuchtraketen und alles das, was dem Arsenal des modernen Films für solche Zwecke zur Verfügung steht.

Bewundernswert die Anordnung der Massen, von selten starker Wirkung die anrückenden Autokolonnen in die vordersten Reihen, der Marsch der Krieger von der Etappe in die Stellung und eine Reihe von anderen Augenblicksbildern.

Malerisch der Blick in die Kirche, die zum Lazarett umgewandelt ist, wundervoll in der Stimmung auch die Szene am Schluss, wo der Engländer weit über das Gelände, anscheinend im Abendlicht, der Geliebten entgegenschreitet.

Jeanne, die kleine Französin, wird von Renee Adoree gegeben. Sie ist keines der ausdruckslosen Girls, von denen in amerikanischen Filmen so oft dreizehn auf das Dutzend gehen. Sie ist lebendig, frisch, schelmisch, und hat auch für die dramatischen Szenen grosse Ausdruckskraft.

Ausgezeichnet auch John Gilbert als ihr Partner Jim Apperson, ebenso gut am Anfang als verwöhntes Muttersöhnchen wie später, als gereifter Mensch. Werner R. Heymann schrieb zu diesem grossen amerikanischen Film eine absolut europäische Musik. Er verwendete selbstverständlich bekannte Motive, lässt einmal Märsche, dann wieder lyrische Intermezzi erklingen und verstärkte durch die ganze Art der musikalischen Anlage die Wirkung. Es gab zum Schluss Beifall, und es hat den Anschein, als ob das deutsche Publikum diesen Film trotz allem, was vorher darüber geschrieben wurde, in seinen Theatern mit grossem Interesse sehen wird.» (Quelle: Kinematograph, 21.Jg., Nr.1079, 23.10.1927)

Die grosse Parade

Von einem gelegentlichen New-Yorker Mitarbeiter, Dr. Hanns Joachim Seidel, erhalten wir einen ausführlichen Bericht über den vielumstrittenen Film "The big Parade", dem wir folgende Abschnitte entnehmen:

Zur Unterrichtung der deutschen Kinobesucher sei auf den Inhalt dieses Dramas etwas eingegangen. Der Programmzettel bezeichnet den Film folgendermassen: "Prächtig, bedeutungsvoll, drollig, schrecklich, hässlich, wundervoll, heroisch, entzückend. Es ist nicht nur ein Drama, sondern Leben! - - Nicht nur für Amerika, sondern für jedermann dasjenige, was das menschliche Herz erschüttert." Wie sieht nun dieser prächtige, drollige, entzückende Film aus? Es sei nicht auf die übliche Kriegsliebesgeschichte eines amerikanischen Soldaten mit einer Französin, die den Hintergrund bildet, eingegangen. Es ist ein bis zur höchsten Realistik gesteigerter Kriegsfilm, er zeigt Amerikaner und Deutsche im Kampf. Aber wie zeigt er beide? Die Amerikaner spazieren Arm in Arm mit gefälltem Bajonett gummikauend, lachend und Witze reissend vor gegen die "Hunnen". Die hinterlistigen Hunnen dagegen sitzen auf allen Baumgipfeln mit ihren Maschinengewehren, der ganze Wald ist gespickt voll mit ihnen. Die Hunnen schiessen wie wild (im Ernstfall würde nicht einer der Stürmenden auch nur einen Schritt vor getan haben, so schnell wären sie niedergemäht). Nur ganz vereinzelt fällt ein Amerikaner (es würde ja dem Publikum sonst nicht gefallen), bis sie auf Schrittnähe an die M.-G.-Nester herankommen, um dann eine Handgranate in die Baumkronen ausgerechnet so zu werfen, dass sie oben hängenbleibt, explodiert und die Deutschen wie Auerhähne heruntergeholt werden. Das übrige wird dann mit dem Bajonett sehr gründlich besorgt. Es ist selbstverständlich, dass deutsche Handgranaten geistesgegenwärtig zurückgeworfen werden und dass die feigen Hunnen bei den gemütlich heranspazierenden Amerikanern sofort alle die Hände hochheben und überlaufen. Eine Szene hat mich aber, der ich selbst den Westkampf in seinen schrecklichsten Momenten kennen gelernt habe, besonders mit tiefer Verabscheuung berührt. Ein leicht verwundeter Amerikaner findet im nächtlichen Trichterfeld einen jungen, blonden, schwerverwundeten Deutschen. Wie ein wildes Tier stürzt er auf ihn zu, schüttelt den Halbtoten ab wie einen Hasen, zieht seine Waffe und wedelt damit vor dem um sein nacktes Leben Flehenden herum, bis er endlich das Hunnengesicht herumreisst, damit er es nicht mehr zu sehen braucht. -

Die Goldwyn-Mayer Production war sicher nicht im westlichen Grosskampf, sonst würde sie wissen, dass selbst im mörderischen Schlachten zwei todwunde Gegner, und wäre der eine selbst ein Schwarzer, sich zusammengefunden hätten zu einer Kameradschaft des Todes. Wo war da Hass und Rache, wenn beiden das warme Blut aus ihren Wunden rann? Waren es nicht gerade die tiefsten und ergreifendsten Augenblicke inmitten dieser Hölle, die uns noch an ein Menschentum glauben liessen?

Goldwyn-Mayer wissen es besser, und mit ihnen wissen es nun auch im Jahr 1925/1926 die Amerikaner wieder. Auf ihren Gesichtern sieht man Genugtuung, wenn die Hunnen hingemäht werden und das weite Feld bedecken. Nur zwei ehemalige Soldaten, die in meiner Nähe sassen, schimpften laut los. Wir haben den Krieg verloren, Goldwyn-Mayer haben gesiegt; und die amerikanischen Zeitungen triumphieren. Immerhin gibt es einige, die sich nicht zu sagen scheuen, dass man schliesslich auch mit anderen Filmen Geschäfte machen kann.» ([Hanns Joachim Seidel], Kinematograph, 20.Jg., Nr.998, 4.4.1926)

Die grosse Parade

«Und nun hat auch das deutsche Publikum seit dem gestrigen Abend Gelegenheit, jenen Film zu sehen, der, wie kein zweiter, im Laufe der letzten zwei Jahre die Gemüter aufgewühlt hat - "Die grosse Parade" King Vidors. Nach allem Vorangegangenem war diese Premiere in Deutschland fraglos ein Experiment. Und dieses Experiment ist gelungen. Keine Opposition regte sich im festlich gestimmten U.T., Kurfürstendamm. Mochte man es auch nicht recht verstehen, wenn sich ein paar klatschende Hände regten, als die unübersehbare Kolonne der mit Soldaten beladenen Lastautos zur Front rollte - ein Bild, das nicht frohen Applaus, sondern eher den bitteren Gedanken auslösen musste, dass wir dieser erdrückenden Übermacht an Menschen und Material unterlegen sind: so war um so echter der tosende Beifall, in den auch der Rezensent einstimmte, als ein paar gutsitzende Titel den Protest gegen den Wahnsinn des Völkermordens, gegen Verlogenheit des Hurra-Patriotismus in die Welt hinausschrien. Zum Schluss des Films löste sich die starke Ergriffenheit der Zuschauer nochmals in starkem Beifall.

Eine eingehende kritische Würdigung dieser gewaltigen Leistung behalten wir uns für unsere Montagsausgabe vor. (H. W-g. [= Hans Wollenberg], Quelle: Lichtbildbühne, 20.Jg., Nr.253, 22.10.1927)

Die grosse Parade

«Es erübrigt sich über den Verlauf der mit Spannung erwarteten Freitag-Premiere dieses Films noch zu sprechen - es ist dies bereits in einer Vorkritik unserer Sonnabend-Nummer geschehen. Heute handelt es sich darum, dieses Werk als solches, rein kritisch und losgelöst aus allen politischen Zusammenhängen und Gedankengängen an sich zu würdigen. Es gibt nicht allzuviel Filme, die einem zweimal zum Erlebnis werden können. Nach der Vorstellung der "Grossen Parade" am 14.Juni im geschlossenen Kreis war für uns der Film am Freitag kein neuer, erstmaliger Eindruck. Er hat darum an Wirkung nicht verloren. Er hat auch zum zweiten Male gepackt - über die grössere Distanz hinweg, mit der man ihm bei einer zweiten Besichtigung gegenüberstand.

Die Geschichte ist äusserst schlicht, die dem Film zugrundeliegt, und gerade darin liegt vielleicht das Geheimnis des ungewöhnlichen Erfolges. Die Primitivität der erfundenen Handlung verstärkt im Zusammenhange mit dem gewaltigen Naturalismus, in welchem das Kriegsgeschehen nachgestaltet ist, jene Illusion der Wirklichkeit bis zur Vervollkommnung, hinter der das Bewusstsein: Du siehst "nur einen Film" - völlig verdrängt wird.

Drei junge Männer: ein Bauarbeiter auf hohem Gerüst - ein Geschirrwäscher - und der verwöhnte Sohn eines reichen Vaters: in drei alltägliche Menschenleben greift jäh der Krieg hinein. Die Uniform nivelliert - macht sie zu Brüdern. Man spürt noch einmal - was man als Soldat so oft empfunden - angesichts dieses Films vielleicht noch bewusster: der Krieg ist eine riesige unerbittliche Maschine - und wer in diese Maschinerie hineingerät, hört auf, er selbst - Individuum - zu sein; wird in dem Räderwerk mit all den anderen zu einer einzigen willenlosen, gleichförmigen, unzweckhaften Masse zusammengeschmolzen.

Die drei kommen nach Frankreich ins Bürgerquartier. Triebhaft vegetieren sie von einem Tag zum anderen - wie du und ich als Soldat draussen gelebt haben. All das wird noch einmal in diesem Film mit überwältigender Realität lebendig. Der feldgraue Humor des militärischen Alltags steht wieder auf, erweckt durch eine unerhörte Beobachtungsgabe. Aber ein Humor, der zu echt ist, um, auf dem tragisch-düsteren Hintergrund "Krieg", zu verletzen - Widerspruch hervorzurufen.

In der derben Gestalt eines hübschen französischen Bauernmädels greift die Liebe in das vegetative Soldaten-Dasein des einen hinein, der früher einmal ein reicher junger Amerikaner war und drüben eine Girl-Braut sitzen hat. Da schmettert es Alarm. Und nun kommt eine der gewaltigsten Situationen, die filmische Kunst je erfand und gestaltete, - eine Szene, um deretwillen allein schon dieser Film gesehen werden muss: Der Abschied der dunklen Französin von ihrem amerikanischen Liebsten - ein Bild, in dem alles Weh, alles Herzeleid, alle Grausamkeit der Welt zusammengedrängt ist zu einer aus tiefsten Herzzuckungen aufstöhnenden Symphonie.

Folgen die gigantischen Bilder vom Anmarsch der amerikanischen Truppen, Vormarsch in Schützenlinien - Trichterfeld, Schlamm, Dreck, Blut - Gräben - feuernde Geschütze, einschlagende Gasgranaten, funkende Flieger - geisternde Scheinwerfer - das Höllen-Orchester des modernen Krieges in einer noch nicht im Film erlebten Steigerung. Hier ist es das immense technische Können, das restlos Bewunderung abzwingt.

Der Bauarbeiter, der Geschirrwäscher fallen auf Schleichpatrouille. Der Dritte der drei Getreuen wird schwerverwundet. In der als Lazarett eingerichteten Kirche finden wir ihn wieder. Hier hört er, dass das Dorf seiner geliebten Jeanne umkämpft ward. Mit dem frischverbundenen Bein humpelt er dorthin - findet es in Ruinen, von den Bewohnern geräumt - ohnmächtig bricht der Verwundete nieder - Sanitätstruppen lesen ihn auf. Der Krieg ist vorbei. Am Krückstock - mit einem Bein - kehrt er ins Vaterhaus zurück. Sein Herz blieb in Frankreich bei dem dunklen Bauernmädel. Und Mutterliebe weist ihm den Weg. Er kehrt dorthin zurück, wo er einst im Quartier lag, als feldgraue Nummer - findet sie wieder - jubelnd, selig - für immer.

An King Vidors Regie ist für den Fachmann bewundernswert, wie er die Gestaltungsfähigkeit ganz grosser, in diesen Dimensionen noch nie gesehener Tableaus in sich vereint mit der Gabe, subtilste Innenvorgänge in Heiterkeit und Schmerz durch eine Spielleitung von ungewöhnlicher Feinheit sichtbar zu machen. Man braucht nur die darstellerische Leistung John Gilberts, des eigentlichen Helden dieses Films, mit dem zu vergleichen, was wir sonst von Gilbert leider gewohnt sind, um den Niveau-Unterschied dieser Spielleitung und dieses Films gegenüber anderen zu ermessen. Ebenso Renée Adorée, die kleine Französin, die hier, weltfern von jeder Schablone und unter Verzicht auf alles, was amerikanische Konvention, Eleganz und Startum heisst, eine hinreissende Frauengestalt auf die Beine stellt. Ganz hervorragend, vielleicht die lebendigste Erscheinung dieses Films, ist der lange, ewig Gummi kauende Kamerad Slimm Karl Danes. Nicht verschwiegen darf werden der Name des dritten Getreuen O'Brien.

Dass die Kameraleute, die hier am Werke waren, eine Glanzleistung vollbracht haben, sei zum Schluss festgestellt.» (H.W-g. [= Hans Wollenberg], Lichtbildbühne, 20.Jg., Nr. 254, 24.10.1927)

Chicago

Regie:   Frank Urson, USA - 1927
Produktion: DeMille Pictures Corporation - Regisseur: Frank Urson - Drehbuch: Lenore J. Coffee - Nach einer Vorlage von: Maurine Dallas Watkins play - Kamera: J. Peverell Marley - Schnitt: Anne Bauchens - Architekt: Mitchell Leisen - Set Decoration: Ray Moyer - Kostümbild: Adrian - Darsteller: Julia Faye Velma - Viola Louie Two Gun Rosie - Robert Edeson William Flynn - May Robson Matron - Otto Lederer Amos' Partner - Sidney D'Albrook Photograph - T. Roy Barnes Reporter - Warner P. Richmond Asst. District Attorney - Clarence Burton Polizei Sergeant - Virginia Bradford Katie - Eugene Pallette Rodney Casley - Victor Varconi Amos Hart - Phyllis Haver Roxie Hart -
Kritiken : Chicago Schon wieder bringt uns Film-Amerika eine Ueberraschung! Man schickt uns da einen Film herüber, in dem eine süße, blonde, verheiratete Frau die Hauptrolle spielt. Sie erschießt, angeblich um ihre Ehre zu retten, einen Mann, kommt vor das Gericht und wird - freigesprochen. Das sei schon oft dagewesen? Einen Moment bitte!! Sie müssen nämlich wissen, daß der Erschossene der Liebhaber war, der die Zahlung diverser Rechnungen verweigerte und endgültig "Schluß" machen wollte. Und daß infolgedessen der Freispruch nicht der Triumph einer innerlich unschuldigen Frau ist, sondern eine raffinierte Täuschung der einfältigen Geschworenen durch den Verteidiger und die Angeklagte. Ein solcher Film ist im Lande der Frauenanbetung, die durch die vielen schmalzigen Liebesfilme noch verstärkt wurde, einfach noch nicht dagewesen. Eine schöne verheiratete Frau eine Mörderin und Dirne? Und der Schauplatz dieser Handlung nicht Paris oder London, sondern Amerika? Was werden dazu nur die Frauenvereine gesagt haben? Der Film führt zum Schluß die Handlung nicht konsequent zu Ende. Ein europäischer Dramatiker hätte wohl das Eheleben von vorn anfangen lassen, hier weist der Gatte mit pathetischer Geste der "Ruchlosen" die Tür. Sie muß auf die Straße, wo es natürlich regnet und eben die letzen Reste ihres Prozeßruhmes im Rinnstein verschwinden. Und dann gibt es auch noch ein sanftes schwarzes Mädchen, daß begründete Hoffnungen auf ein gar nicht fernes happy ending zuläßt. Aber der Film geht nicht nur gegen die Frauen vor. Er richtet sich auch gegen andere U.S.A.-Institutionen, die bisher unantastbar schienen. Zuerst einmal gegen die sogenannte "gelbe" Presse, die jeden Vorfall sofort in Auflagen umrechnet und deren Reporter wegen jedes Mordes Freudenpurzelbäume schießen. "Chicagos schönste Mörderin" wird sofort gemanagt, die Setzmaschinen tippen erfundene "interessante" Einzelheiten aus dem Leben der Berühmten, die Photographen knipsen die Heldin, als habe sie eben den Ozean überflogen. Erst wenn eine neue Sensation da ist, wird die alte plötzlich "abgeblasen". Nun - wir haben ja erst vor kurzem einen Krantz-Prozeß erlebt und erfahren, wieviel unsere deutschen Zeitungen schon von drüben "gelernt" haben. Dann kommt die Justiz an die Reihe. Im Untersuchungsgefängnis streiten sich die Mörderinnen über den gegenseitigen Ruhm und die Zahl der erschienenen Bilder, der Verteidiger inszeniert nach Erpressung eines enormen Vorschusses eine ganze Theateraufführung vor den Gerichtsschranken, die Geschworenen sind leicht zu schmeichelnde Trottel, die ein Frauenschenkel mehr interessiert als der ganze Prozeß, der Staatsanwalt schreit nach Blut, übersieht alle wesentlichen Dinge und baut seine Anklage auf schillernden Phrasen auf. Das Publikum benimmt sich wie bei einem Fußballmatch und schlägt sich zum Schluß um die Autogramme der Freigesprochenen. Manches ist wohl etwas übertrieben, aber das dürfte Absicht sein. Denn wenn man ein Volk, das die geschilderten Vorgänge in gemilderter Form ohne weiteres bisher für selbstverständlich hielt, aufrütteln will, muß man scharfe Töne anschlagen. Diese Uebertreibungen werden drüben deshalb gar nicht so stark empfunden werden. Man arbeitet auch bewußt mit Kintopp-Effekten und reißerischen Mitteln. Der Erfolg ist, daß der Film Tempo und Spannung hat. Man klagt nicht, wie die nordischen Dramatiker, die "Gesellschaft" an, beschwert den Zuschauer auch nicht mit tragischen Konflikten, sondern greift zu den Waffen des Spottes und überläßt es jedem einzelnen, über den Sinn der Geschichte zu entscheiden. Leonore J. Coffee schrieb das Manuskript nach einem gleichnamigen Bühnenstück, für die Regie zeichnet Frank Urson. Er leistet ausgezeichnete Arbeit, holt aus den Darstellern alles heraus und läßt sich keine Wirkung entgehen. Der Film ist im Grunde genommen aus derselben Mentalität heraus gemacht, wie die karikierten Zeitungsartikel. Phillis Haver, bekannt als Nuttchen aus dem "Weg allen Fleisches", hat eine Bombenrolle. Sie ist eine makellose Postkartenschönheit, ohne Seele, ohne Gefühl, die die Männer nimmt, was sie wert sind, die in Rührung macht, wenn es opportun erscheint, und wenn es zum Zahlen kommt, sich sehr freimütig selbst anbietet. Der Haver hat die Rolle sichtlich Spaß gemacht, ihre Gesten sind zuweilen von verblüffender Eindringlichkeit, sie ersetzt Titel und ganze Szenen mit einem einzigen Mäulchenmachen oder Schulterzucken. Den gehörten Ehemann, dessen goldblondes Glück sich als gelbgestrichenes Blech erweist, spielt Viktor Varconi mit nobler Haltung. Dieser Ehemann ist durchaus kein Trottel, über den man lacht und von dem man sagt, er habe sein Schicksal verdient, sondern ein schöner, kluger Mann, der im Geschäft sehr tüchtig ist und lediglich zu Haus vor logischen Konsequenzen zurückschreckt. Auch die übrigen Darsteller werden von der Regie glänzend geleitet. Die deutsche Bearbeitung von Robert Liebmann ist einwandfrei. Der Film fand sehr starken Beifall und fesselte trotz der vorgerückten Zeit restlos die Besucher. Wo man ihn geschickt herausbringt und richtig sagt, was er bezweckt, wird er auch in den Sommermonaten ein großes Geschäft sein. P.D.C.-Film im National-Verleih.» (Georg Herzberg, Film-Kurier, 10.Jg., Nr.125, 25.5.1928) "Chicago" verfilmt «Der amerikanische Bühnenschlager "Chicago", der hier in der Übersetzung Karl Vollmoellers demnächst zur Aufführung kommt, wird nunmehr verfilmt Unter der persönlichen Regie von Cecil B. de Mille wurden dieser Tage die ersten Szenen zu dem Film "Chicago" gedreht. Mit der Regie war ursprünglich Frank Urson beauftragt worden, doch hat sich später de Mille entschlossen, die Leitung der Aufnahmen selbst zu übernehmen.» (Quelle: Lichtbildbühne, 20.Jg., Nr.251, 20.10.1927) "Chicago." Eine Premiere in Hollywood. Als Regisseur für diesen Film zeichnete Frank Urson. Im wesentlichen wurde er aber von Cecil de Mille inszeniert. Von manchen Seiten wurde de Mille der Vorwurf gemacht, er habe, als der Film nicht so gut wurde, wie er es erwartet hatte, und vor allem den Vergleich mit dem bekannten Bühnendrama gleichen Namens nicht aushielt, sich nach seiner Fertigstellung hinter dem Namen eines Strohmannes versteckt. Die Unterlegung dieses Motives scheint nicht berechtigt. Urson war als Regisseur engagiert worden und blieb offiziell der Regisseur während der Herstellung. Hätte de Mille nachträglich seinen Namen auf den Film gesetzt, so wäre sicher mindestens ebenso laut protestiert worden. Nur hätte man ihm nachgesagt, er versuche sich mit fremden Lorbeeren zu schmücken. Es ist die alte Geschichte von dem Müller, seinem Sohn und dem Esel. Wo Urson aufhört und de Mille anfängt in diesem Film, wird man schwer erkennen können. An den hier hergestellten Filmen des gleichen Kalibers gemessen, ist der Film keineswegs schlecht. Das Publikum des Metropolitan-Theaters machte den Eindruck, als werde es ausgezeichnet unterhalten. Die Geschichte hat viel mit der Qualität des Films zu tun, obwohl sie beträchtlich durch die Verpflanzung von der Bühne zur Leinwand gelitten hat. Die junge Frau erschießt ihren reichen Liebhaber, als dieser, ihrer Geldforderungen satt, sich von ihr trennen will. Ihr Mann opfert sein Vermögen und bestiehlt außerdem den berühmten Anwalt, der exorbitante Honorarforderungen stellt, ihn mit dem von ihm gestohlenen Geld bezahlend, um sie vor den gesetzlichen Folgen ihrer Tat zu retten. Die Rettung gelingt, dank der für Frauenschönheit und -tränen empfänglichen Geschworenen. Zum Schluß weiste er ihr die Tür, trotzdem er sie liebt. Das ist ebensowenig überzeugend wie die Beraubung des Anwalts. Der Film ist eine leidlich gute Satire auf die Stellung der Frau in Amerika, solange er Satire bleibt. Man ist sich hier aber nicht immer über das Wesen und die Mittel der Satire klar, hat vor allem nicht das Gefühl dafür, wo die Satire aufhört und die Burleske anfängt. So enden manchen Szenen, die sich wundervoll satirisch pointieren ließen, in burlesken Verknotungen. Die Hersteller des Filmes werden allerdings unter Hinweis auf die Reaktion des Publikums, die gelungene Erzielung des Abdominallachens, welches, wie sie behaupten, den Kasseneinnahmen eines Filmes nützt, diese stilistischen Ausrutschungen verteidigen können. Ich möchte aber behaupten, daß nicht das laute Lachen im Theater zählt, das auf beinahe mechanischem Wege erzielt werden kann, wenn man z.B. jemanden einen Stoß Teller ohne irgendeinen besonderen Grund auf den Boden werfen läßt, sondern das leise Lachen, das man mit sich nach Hause nimmt. Und dieses zu erzielen, ist sicher eine große und schwere Kunst. Der Film baut sich im wesentlichen auf einem Charakter auf, dem der Frau, die von Phyllis Haver dargestellt wird. Man kann gut erkennen, was die Regie mit ihm zu tun beabsichtige, und muß mit Bedauern feststellen, daß das Beabsichtigte so vollständig gelungen ist. Die Frau ist die Personifikation der Hysterie der amerikanischen Großstadt. Den Charm des Wesens, den diese Frau neben ihren Fehlern notwendig aufweisen mußte, versucht man rein mechanisch durch Unterstreichung ihres körperlichen Charms zu ersetzen. Wie anders wurde das doch mit der gleichen Schauspielerin im "Weg allen Fleisches" gehandhabt. Victor Varconi als Ehegatte füllt seinen Platz gut aus.» (Ch., Film-Kurier, 10.Jg., Nr.74, 26.3.1928) Chicago Was die National jetzt als amerikanisches Sittendrama in neun Akten vor die Berliner Öffentlichkeit bringt, ist hier in der Reichshauptstadt an sich bereits bekannt. Es handelt sich um die Verfilmung des Schauspiels "Chicago", ein Stück, daß [!] die amerikanische Girl-Kultur, den übertriebenen Kult der Frau, geißeln und glossieren will. Diese Angelegenheit ist für uns, von ihrer politischen Seite aus gesehen, absolut unaktuell, so daß die besondere Sensation, die dieses Bild in Amerika hatte, bei uns ausblieb. Immerhin handelt es sich um ein Bild, das über dem Durchschnitt steht, sogar besser gespielt ist, als mancher andere Amerikaner und auch in der Geschichte an sich interessant wirkt. Es handelt sich dabei um eine junge Frau, die neben ihrem Mann noch einen Liebhaber hat und den Galan einfach eines Tages erschießt, als er kein Geld mehr hergeben will. Ein übergeschickter Reporter macht aus dieser kleinen Frau die schönste Mörderin Chikagos. Ein geschickter Rechtsanwalt sorgt für ihren Freispruch, allerdings nur gegen ein Honorar von fünftausend Dollar, die der Mann allerdings nur dadurch besorgen kann, daß er selbst bei dem Rechtsanwalt einbricht. Schließlich, nachdem die Mörderin freigesprochen ist, nachdem der Gatte sich mehr für sie eingesetzt hat, als das eigentlich die verliebtesten Ehemänner tun, wirft er sie aus dem Haus. Die einzelnen Szenen sind sensationell zugespitzt. Das Ganze hat zu einem Teil starke Spannung und wirkt deshalb auf das Publikum, das sicher auch das Gefühl haben wird, daß einige Partien, so zum Beispiel die Gerichtsszene, sogar Höhepunkte der modernen Filmschauspielkunst darstellen. In der männlichen Hauptrolle sieht man Victor Carconi [!], einen talentierten Ungarn, und Phillys Haver, eine Frau, die man sich merken muß, die im europäischen Sinn nicht unbedingt hübsch, aber außerordentlich pikant ist. An dem Erfolg hat der Regisseur Frank Urson Anteil, ein geschickter, routinierter Arbeiter, der vor allem auch äußere Effekte gut trifft, sowie der ausgezeichnete Photograph.» (Quelle: Kinematograph, 22.Jg., Nr.1110, 27.5.1928) Chicago (...)Das Bühnenstück Chicago, ein Reißer mit hundert Pferdekräften, eine Persiflage, die rauchende Salpetersäure auf amerikanische Rechtspflege und Presse tropft, hat im Film sozusagen eine freundliche Abschleifung erhalten. Im Bühnenwerk gibt es keinen Edelmut, keine Liebe, keine sauberen Gefühle: da gibt es ein Wettrennen um Presseruhm und Dollars - der Film dagegen wartet mit einem hingebend verliebten Mann auf, mit einem edelmütigen Dienstmädchen und setzt an den Schluß einen Ausblick in eine saubere Zukunft. Die blonde, süße, pflanzenhaft lebende Roxy Hart schießt ihren Liebhaber, der keine Dollars mehr herausrücken will, ein bißchen tot. Ihr Gatte will sich opfern: vergebens, sie kommt ins Chicagoer Frauengefängnis und wird des Mordes angeklagt. Das Gefängnis ist ein höchst seltsamer Klub etwas allzu energischer Damen, die teils zu schnell mit dem Messer waren, teils auf ein allzu frühes Kommen des Ehegatten mit einem Browning reagierten. Das wesentlichste Erregungsmoment ihres komfortablen Gefängnislebens besteht in der Angst, irgendeine andere Insassin könnte den Rekord an Zeitungsberichten über ihren "Fall" schlagen. Roxi [!] erhält den gerissensten Verteidiger, einen Meister der Regie, der allerdings etwas teuer ist und der sich für seine Forderung von 5000 Dollar Vorschuß einen kleinen Einbruch von Roxyx Mann zuzieht und nun mit seinem eigenen Geld bezahlt wird. Der Verteidiger inszeniert die Gerichtsverhandlung zu einem Drama, das mit ältesten Kulisseneffekten die Geschworenen rührt, mit Lieblichkeit, Unschuld, Reue und Moral die Zuschauer einwickelt und die freche, kleine Roxy minutenweise in einen blonden Tugendengel verwandelt. Resultat: Freispruch - die Reporter rasen - da knallt ein Schuß - eine Dame der besten Gesellschaft hat ihren Geliebten erschossen - Presse, Photo, Polizei: Roxy ist eine Sensation von gestern. Und ihr Mann hat endlich die Energie, sie hinauszuwerfen und mit einem leichten, symbolischen Bedürfnis läßt der Film abschließend das treue Dienstmädchen mit dem goldenen Herzen die ganze, von dem empörten Ehemann zusammengeschlagene Bude "aufräumen". Eine wirksame Handlung, durch knallige Filmeffekte vergröbert. Es ist gegenüber dem Bühnenstück vieles zuerfunden worden, es ist aus einer ätzenden ironischen Verulkung eine freundlich derbe Satire geworden. Der Regisseur Frank Urson, der "unter der künstlerischen Oberleitung von Cecil B. de Mille" arbeitete, hat einen einheitlichen Stil nicht gefunden. Der Film schwankt zwischen Charakterkomödie und handfestem Schwank, und Urson tut bald in dieser, bald in jener Richtung zu viel oder zu wenig. Aber das geht nur das künstlerische Urteil an: die Wirkung des Chicago-Films ist eine bemerkenswert große. Die Szene im Gerichtssaal, in der Roxy unter Leitung ihres Anwalts ihr Repertoire abwickelt, ist mit viel Feinheit gestaltet, mit viel Sinn für bildlich-satirische Wirkungen geformt. Der Regisseur entwickelt einen erheblichen Reichtum technischer Mittel, die in den darstellerischen Leistungen wesentlichste Unterstützung finden. Phyllis Haver ist nach diesem Film eine klar umrissene Figur des heutigen Film-Reportoires [!]. Sie ist die ideale Darstellerin jener amüsanten Frauen, die haltlos zwischen Liebe und Luxus schwanken, deren Moralbegriffe etwas aufgeweicht sind und die das Leben mehr aus der Perspektive des Amüsements als der Pflicht betrachten. Natürlich ist sie nicht böse: sie ist nur ein klein bißchen frivol. Sie ist auch keine Kokotte, aber das normale Leben im ehelichen Pflichtenkreise würde sie als ledern und spießig empfinden. Die Haver hat darstellerisch und optisch alle Voraussetzungen, um diesen Typ zu gestalten, ohne dämonisch oder kulissenreißerisch zu wirken. Sie gibt nur gern ein bißchen zu viel, und eine vorsichtige Hand, die ihr ab und zu einen Spiegel vorhalten würde, könnte ihr gut tun. Der Gatte ist Victor Varcony, der zu edelmütig sein muß, zu hörig dieser hübschen leichsinnigen Blondine, als daß er zu einer runden, greifbaren Gestaltung kommen könnte. Der Verteidiger ist Robert Edeson: er ist gerissen, zielbewußt, brutal: ein bißchen mehr Liebenswürdigkeit und ein wenig mehr Genießerfreude hätte ihm nichts schaden können. Photographiert wurde ausgezeichnet, insbesondere die Frauenaufnahmen sind von bemerkenswerter Weichheit und Präzision. Die gesamte äußere Aufmachung ist geschmackvoll und unaufdringlich. Das Publikum ging aufs höchste interessiert mit: ein einleitender Vortrag von Lion Feuchtwanger kam nicht recht zur Geltung. Chikago wird ein ausgezeichnetes Geschäft werden.» (R.K., Lichtbildbühne 21.Jg., Nr.126, 25.5.1928) Girl-Kultur [Fazit des Vortrags von Lion Feuchtwanger, der in der Lichtbildbühne wiedergegeben ist] (...) Dieser Film ist geschrieben vom neuen Amerika gegen das alte, von einem neuen Frauentyp gegen den alten. Wenn er schwarz-weiß malt, wenn das Dienstmädchen überedel ist, die Nutte übernuttig, wenn der Mann, der an ihr hängt, eine unwahrscheinliche geistige Schlichtheit an den Tag legt, so sind diese Schwarz-Weiß-Zeichnungen nicht nur entstanden aus billiger Freude am Effekt, sondern aus dem Willen, einem tief eingefressenen Übel mit den stärksten Mitteln beizukommen. (Quelle: Lichtbildbühne, 21.Jg., Nr. 130, 30.5.1928) The long history of "Chicago" began almost eight decades before its 2002 musical screen version. (...) Never faltering, "Chicago" is unquestionably the work of a master - but who was he? The direction is credited to Frank Urson, a former cinematographer who had capably directed a dozen films in the six years before "Chicago" (...). At the same time however there is a pervasive belief that DeMille's own contribution might have gone further than "supervision". (...) Who made Chicago matters less than the rediscovery of an outstanding work offering a ferocious view of American society and press in the 1920s.» (David Robinson, Quelle: http://www.cinetecadelfriuli.org/gcm/ed_precedenti/edizione2007/edizione2007_frameset.html)
Anmerkungen: «Die erste Verfilmung jenes Stoffes, der als Musical 2002 mit Catherine Zeta-Jones, Renée Zellweger und Richard Gere neuverfilmt wurde, ist eine unterhaltsame Komödie über amerikanisches Gerichtswesen, Sensationsjournalismus und Showbusineß. Roxie Hart erschießt einen Mann. Überrascht von dem einsetzenden Presserummel lernt sie, den Mordfall geschickt zu nutzen, um auf die Titelseiten der Boulevardpresse zu gelangen. Mit Hilfe eines gerissenen Anwalts versucht sie, vor Gericht einen Freispruch zu erwirken.» (Stummfilmtage Bonn)

The First Born

Regie:   Miles Mander, Grossbritannien - 1928
Produktion: Gainsborough Pictures - Produzent: Michael Balcon - C.M. Woolf - Regisseur: Miles Mander - Drehbuch: Miles Mander - Alma Reville - Nach einer Vorlage von: Miles Mander - Kamera: Walter Blakely - Walter Blakeley - Schnitt: Arthur Tavares - Architekt: C. Wilfred Arnold - Darsteller: Marjorie Roach Phoebe Chivers - John St. John Dickie - Naomi Jacobs Dot - Bernard Vaughan Butler - Walter Wichelow Mr. Imprett - Beryl Egerton The maid - Theodore Mander Stephen, the first-born - Ivo Dawson Derek Finlay - Margot Armand Sylvia Finlay - Ella Atherton Mme. Nina de Landé - John Loder David, Lord Harborough - Miles Mander Sir Hugo Boycott - Madeleine Carroll Madeleine, his wife -
Kritiken : Was niemand erwarten konnte, war die visuelle Intelligenz und Raffinesse des Films. Mander und die Techniker seines Teams gruppieren und beleuchten Personen, Requisiten und Dekors mit einem wachen Auge für wirkungsvolle Gestaltung und emotionale Wirkung. Walter Blakelelys Kamera unternimmt subjektive Streifzüge. Überblendungen, Inserts und einfallsreiche Schnitttechnik verleihen Dialogen visuelle Dynamik, die allzu leicht zu einem Gewirr von Zwischentiteln geworden wären. Mander denkt stets filmisch - 1928 immer noch eine Seltenheit im britischen Spielfilm, trotz der Fortschritte von jungen Kerlen wie Hitchcock und Asquit. Im Laufe des Jahres 1929 wurde DAS WUNSCHKIND dennoch beiseite gedrängt, nicht zuletzt wohl dank Branchenkritiken, die seinen Wert als Massenunterhaltung infrage stellten. ((Vollständiger Text/ Quelle: http://www.cinetecadelfriuli.org/gcm/ed_precedenti/edizione2007/edizione2007_frameset.html) The First Born (...) Before "The First Born", Mander had only directed several DeForest Phonofilm sound shorts. Like Welles with Citizen Kane, he gave himself no place to hide: he directed, took one of the lead roles, and with Hitchcock's wife Alma Reville crafted the script from his own material, previously presented as a play (Common People) and a novel (Oasis). (...) What no-one could have expected was the film's visual wit and sophistication. (...) Another of the film's pleasures is the shading Mander gives his characters. Boycott the blackguard isn't all black: Mander makes his public charm entirely credible. Alongside, Carroll's Madeleine may appear foolish in her wifely devotion, but, warm and humane, she never comes across as a fool. (...) The First Born still displays abundant evidence of Mander's talent as an inventive filmmaker. (Geoff Brown) (Vollständiger Text/ Quelle: http://www.cinetecadelfriuli.org/gcm/ed_precedenti/edizione2007/edizione2007_frameset.html English character actor Miles Mander is one of the countless film figures whose careers never quite lived up to early promise. Mander is (slightly) remembered today for his long stint in small roles in Hollywood films of the 1930s and '40s. "The First Born" was Mander's shining moment as a writer/director/leading man, but his moment doesn't quite shine brightly enough. (...) The lead role in "The First Born" is Lady Boycott, sensitively played by the spectacularly beautiful Madeleine Carroll. She's trapped in a loveless marriage to a wealthy but cruel husband (very well-played by Mander, whose sharp features typecast him in unsympathetic roles). Lady Boycott uses her husband's wealth to help other people ... such as her manicurist, who is unmarried but has suddenly found herself pregnant. When Lady Boycott learns that her husband is a chronic philanderer who doesn't love her, she decides to adopt the manicurist's child so as to have somebody who loves her and needs her. (...) (F. Gwynplaine MacIntyre) (Vollständiger Text/ Quelle: http://www.imdb.com/title/tt0018891/#comment)
Anmerkungen: «Alma Reville, die Ehefrau und engste Mitarbeiterin von Alfred Hitchcock, begann ihre Karriere als Cutterin und Drehbuchautorin. Das Drehbuch zu dem spannenden Ehedrama DAS WUNSCHKIND schrieb sie zusammen mit Miles Mander, einem populären englischen Schauspieler, der auch die männliche Hauptrolle spielt und Regie führt. Es geht um eine Ehefrau, die ihren Mann liebt, obwohl er sie dauernd betrügt. Als er sie verläßt, schmiedet sie den Plan, ihn mit einem Wunschkind zurückzuholen. » (Stummfilmtage Bonn)

Der geheime Kurier

Regie:   Gennaro Righelli, Deutschland - 1928
Produzent: Herman Millakowsky - Marcel Hellmann - Regisseur: Gennaro Righelli - Drehbuch: Curt J. Braun - Walter Jonas - Nach einer Vorlage von: Stendhal novel Le Rouge et le Noir - Kamera: Friedrich Weinmann - Musik: Giuseppe Becce - Architekt: Hans Sohnle - Otto Erdmann - Darsteller: Lil Dagover Madame Thérèse de Renal - Agnes Petersen Mathilde de la Môle, Tochter des Baron - Ivan Mosjoukin Julien Sorel - José Davert Monsieur de Renal, Maire - Jean Dax Marquis de la Môle - Félix de Pomés-Soler Norbert - Dillo Lombardi Abbé - Valeria Blanka figlia dell’albergatore / the innkeeper’s daughter - Hubert von Meyerinck Duc d'Orlèans -

Der Geliebte seiner Frau

Regie:   Max Neufeld, Österreich - 1928
Produktion: Hugo Engel-Film - Regisseur: Max Neufeld - Drehbuch: Fritz Zoreff - Siegfried Bernfeld - Max Neufeld - Kamera: Viktor Gluck - Architekt: Franz Meschkan - Hans Ledersteger - Darsteller: Cläry Lotto - Dina Gralla - Alphons Fryland - Richard Waldemar - Otto Schmöle - Cornelius Kirschner -
Kritiken : «Der Geliebte seiner Frau Verleih: Bayerische Film G.m.b.H. Hauptrollen: Dina Gralla, Fryland, Lotto Länge: 2420 Meter, 6 Akte Uraufführung: Marmorhaus Auf die Pikanterie des Untertitels "Ein Seitensprung ins Ehebett" hätte man gerne verzichten können, denn der an lustigen und übermütigen Situationen reiche Schwank hat auch ohne diese Aufpulverung Wirkungskraft. Das diesem Filmschwank zugrunde liegende Motiv ist nicht neu. Es handelt sich um eine Reihe von Mißverständnissen, die dazu dienen, das Zusammenkommen zweier junger Menschen zu verzögern. Es hieße mit Kanonen nach Spatzen schießen, wollte man darauf hinweisen, daß die Logik nicht die stärkste Seite dieser Filmhandlung ist. Da die Sache aber amüsant und unterhaltsam ist und ihre Wirkung auf die Lachmuskeln nicht verfehlt, kommt es darauf auch gar nicht an. Max Neufeld hat den Film recht nett inszeniert. Das haarscharfe, zielsichere Abwägen der Szenen zueinander, ist allerdings seine Sache nicht. Die Unbeschwertheit des Stoffes und die gute Darstellung durch die muntere, lustige Dina Gralla, und zwei sichere Komiker wie Richard Waldemar und Otto Schmöle werden dem Film überall die gleiche freundliche Aufnahme und den Lacherfolg sichern wie bei der Uraufführung. Alfons Fryland macht als Graf Hardenegg gute Figur, müßte aber diese Art Figuren leichter und flotter anpacken.» (Quelle: Kinematograph 22.Jg., Nr.1102, 1.4.1928) «Der Geliebte seiner Frau Hugo Engel-Film der Bayerischen/ Marmorhaus Mit dem gestrigen Abend hat nun der Verleih des Emelka-Konzerns, die Bayerische Film G.m.b.H. an der Gedächtniskirche ihre Visitenkarte abgegeben. Im Marmorhaus ging ein Film der "Bayerischen" in Uraufführung, den für sie die Firma Hugo Engel in Wien hergestellt hat. Dieser Start erfolgte unter günstigen Gestirnen. Man darf demnach annehmen, wenn man den gestrigen Abend programmatisch wertet, daß die Emelka-Leitung das kleine, schmucke Theater am Kurfürstendamm für die Herausbringung des modernen und mondänen Genres ausersehen hat, für welches sich dieser Rahmen und sein typisches Publikum vorzüglich eignet. Es gab also gestern einen ganz reizenden Film zu sehen, der den Beweis zu erbringen scheint, daß die Firma Hugo Engel, Wien, auf der mit dem "K. und K. Ballettmädel" beschrittenen Marschroute weiterzugehen gedenkt. "Ein Seitensprung ins Ehebett" - so bezeichnen im Untertitel die Autoren Zoreff und Bernfeld ihr Lustspiel und charakterisieren damit treffend eine ungemein geschickt konstruierte und dadurch restlos unterhaltende und amüsante Handlung. Und so hat der kritische Zuschauer weder Zeit noch Anlaß, in diesem abwechslungs-Geschehen [!] nach Unwahrscheinlichkeiten zu loten; das Publikum wird, wenn es gut unterhalten wird, bestimmt darauf verzichten, nachzugrübeln, ob alles, was sich hier ereignet, auch wirklich lebensmöglich ist. Es wird vielmehr dankbar sein, daß es eine gute Stunde lang trefflich amüsiert worden ist. Der Schwank unterliegt seinen eigenen Gesetzen, und dessen oberstes ist Lustigkeit - d.h. beim Filmschwank: amüsante Bild-Situationen in starker Abwechslung. Und gerade darum, weil der "Geliebte seiner Frau" in diesem Sinne durch und durch Schwank ist, müssen und dürfen wir hier auf eine Inhaltsangabe verzichten. Der Komplikationen sind zu viele - und sie sind erfreulicherweise ganz auf optische Wirkung gestellt. So mag die Feststellung genügen, daß es sich hier um ein gutes Schwank-Manuskript handelt. Das gleich Urteil gilt für die Regie Max Neufelds. Mag er nun hier und da mit groben Effekten, mag er, namentlich im zweiten Teil des Films, mit feineren Pointen und gelegentlich sogar mit überraschenden Einfällen arbeiten - immer darf er seiner Wirkung sicher sein -, weil er die Pointen richtig hinzustellen versteht und die Gesetze der Einstellungen und des Schnitts im Schwank-Film mit treffsicherer Routine beherrscht. Ein Moment, das wir ihm unter dem Gesichtspunkt des besseren Geschmacks besonders anrechnen möchten, ist, daß er hier auf den sonst beliebten Zusatz billiger, verlogener Sentimentalität vollkommen verzichtet und sich ganz auf Schwank eingestellt hat. Lieber keine Psychologie als verfälschte! Seine Stars sind Dina Gralla und Alfons Fryland. Die Gralla auch in diesem Film wieder allerliebst und ungemein begabt, wenn auch ihre Spezialnote - die gaminhafte Keßheit - sich in der ihr übertragenen Rolle weniger auswirken kann. Alfons Fryland ist bei nobler, gepflegter Haltung im mimischen Ausdruck zu wenig wandlungsfähig. Recht gut gefällt Claire Lotto. Einen beachtlichen Konkurrenten für Junkermann lernt man in Richard Waldemar, einen guten Charakterkomiker in Otto Schmöle kennen. Zum Schluß sei auch Oskar Beregi genannt. Die photographische Arbeit leistete Victor Gluck, die Ausstattung Ledersteger und Meschkan. - Das Publikum ging in guter Stimmung mit dem Film mit und gab seiner guten Laune in der Mehrheit durch freundlichen Schlußapplaus Ausdruck. Unter Schmidt-Gentners Takstock erhielt die Illustration aus alten und neuen Schlagerweisen eine schmissige Wiedergabe.» (H.W-g. [= Hans Wollenberg], Quelle: Lichtbildbühne, 21.Jg., Nr.77, 29.3.1928) «Ein Subgenre des österreichischen Stummfilms: DER GELIEBTE SEINER FRAU Die Geschichte des verarmten Grafen Hardenegg, dem Letzten eines alten Adelsgeschlechtes, und seiner, bis zum erlösenden Happy End, sich immer weiter komplizierenden Lebensumstände scheint auf den ersten Blick nur wenig Aufmerksamkeit beanspruchen zu dürfen. Ein Traumprodukt, völlig entrückt von den aktuellen Lebensbedingungen seiner Entstehungszeit; Film in einer unpolitischen, gesellschaftlich fast regressiven Spielart. Betrachtet man jedoch die feine Ironie der Inszenierung, die mit einem Augenzwinkern die Handlung einfallsreich begleitet und die Moralität jeder Aussage permanent in Frage stellt, so zeigt sich hier eine Modernität, die - weit entfernt von Ernsthaftigkeit - viel vom konzilianten Pragmatismus unserer heutigen Zeit an sich hat. Hier wird kein Pathos entfaltet, das für die politischen Auseinandersetzungen der Zeit so typisch war und dem Film im kommenden Jahrzehnt oft schwerfällig anhaften sollte, sondern eine Vigilanz im Psychologischen, die bei aller Gebrochenheit eine frappierende Verwandtschaft mit heutigen Lebensentwürfen aufweist. Funde der letzten Jahre zeigen, dass DER GELIEBTE SEINER FRAU mit seiner Haltung nicht einzig dasteht, sondern als eine sehr eigentümliche Spielart des österreichischen Stummfilmes angesprochen werden kann, die mangels erhaltenen Materials bisher nicht als solche wahrnehmbar war. Zu dieser Spielart gehören gleich zwei weitere Neufeld-Filme: DER BALLETTERZHERZOG (1927) und MODELLHAUS CREVETTE (1928) sowie die kürzlich wiederentdeckten DIE FRAU VON GESTERN UND MORGEN (1928, R: Heinz Paul) und LIEBE IM MAI (1928, R: Robert Wohlmut). Ihnen allen ist neben einem leichten Inszenierungsstil auch eine betont europäische Ausrichtung gemeinsam, die sich nicht nur in der internationalen Besetzung des Schauspieler-Ensembles, sondern auch in deren Sujets, die das Nationale höchstens als ein kleines, fast belächelnswertes Ornament einsetzen, widerspiegelt. Sie alle zeichnen sich in hohem Grade durch handwerkliche Perfektion in Bezug auf Kamera, Ausleuchtung und fotografischer Qualität der Vorführkopien aus, die sich den gefeiltesten Produkten der amerikanischen Schule ebenbürtig zur Seite stellen lassen. Es will so scheinen, als hätte hier der österreichische Stummfilm eine Sprache der Meisterschaft erreicht, die in engem Zusammenhang mit der Formbezogenheit österreichischer Kulturäußerungen zu sehen ist. Auch in diesem Genre ist Max Neufeld in dominanter Position vertreten.» (Nikolaus Wostry, in: "filmarchiv 50" (Februar 2008)

Girl Shy

(Mädchenscheu), Regie:   Sam Taylor, USA - 1924
Produktion: Harold Lloyd Corporation - Regisseur: Fred C. Newmeyer - Sam Taylor - Drehbuch: Ted Wilde - Tim Whelan - Nach einer Vorlage von: Sam Taylor - Kamera: Walter Lundin - Henry Kohler - Schnitt: Allen McNeil - Darsteller: Harold Lloyd Harold Meadows, The Poor Boy - Jobyna Ralston Mary Buckingham, The Rich Girl - Richard Danielson Jerry Meadows, The Poor Man - Carlton Griffin Ronald De Vore, The Rich Man -
Kritiken : "In einem seiner stimmungsvollsten Filme verkörpert Harold Lloyd einen Schneider, der in seiner Fantasie ein Casanova, tatsächlich aber in der Gegenwart von Frauen extrem gehemmt ist. An seiner Schüchternheit verzweifelnd, will seine Freundin einen Heiratsschwindler ehelichen, wird daran aber von Harold nach der vielleicht spektakulärsten Hetzjagd der Filmgeschichte in buchstäblich letzter Sekunde gehindert. Der erste von fünf Filmen, an dem Lloyds späterer Regisseur Ted Wilde prägend mitwirkte." (Lexikon des Internationalen Films) Dieser beliebteste aller amerikanischen Komiker, der infolge des schlechten Schnittes und des miserablen Titels seines "1000:1" in der letzten Zeit etwas in den Hintergrund trat, springt in des Wortes wahrster Bedeutung hier wieder einmal an die Rampe. Er hat sich von seinen zahlreichen "Gaymen" ein Manuskript verfertigen lassen, das ihn zum Schluß von der Stromstange einer Elektrischen in ein Auto und in den tollsten Sätzen bis ans Ziel befördert. Einen Run wie diesen hat die Welt wirklich noch nicht gesehen - und Harold Lloyd bleibt zum Schluß eben der, als der er sich vor Jahren (heute auch schon vergessen) plakatieren ließ: Er!! Die Komik Lloyds ist wie die jedes echten Komikers in der Tatsache verwurzelt, daß sie eigentlich unfreiwillig ist. Harold erscheint, ein amerikanischer Parsifal, in allen seinen Filmen als reiner Tor. Er ist der ewig schüchterne junge Mann, der ohne Bewußtsein der Kompliziertheiten durch das Leben geht und eben deshalb die Schwierigkeiten, an denen andere scheitern, zu überwinden weiß. Frauen spielen in den Lloydfilmen stets nur die Beigabe des "foil", wie die Filmsprache Hollywoods die Partnerinnen nennt, die nichts als das Stichwort für den Star zu bringen haben. Harold leidet also diesmal an einer unüberwindlichen Scheu vor dem weiblichen Geschlecht. Er flieht die Frauen, während in seinem Herzen tausend heiße Wünsche glühen. Der kleine Schneidergeselle, der er ist, schreibt die Liebesabenteuer einer träumerischen Phantasie nieder und bringt sie, da er sich für einen Dichter hält, zu einem Verleger. Aber dieser wirft ihn aus dem Hause, bis ihm später die Erkenntnis kommt, daß die so recht ernst gemeinten Lyrismen der Schneiderlehrlingsphantasie eine noch nie dagewesene Komik bergen. Harold Lloyd, den in seiner Armut plötzlich der Scheck eines angesehenen Verlagshauses lockt, könnte nun seine Angebetete heiraten, aber als ewiger Pechvogel muß er im letzten Augenblick erkennen, daß sich die Teure mit einem anderen verheiraten will. Mit einem anderen, von dem er weiß, daß er ein Schurke ist. Was bleibt dem vortrefflichen Harold da weiter übrig, als zu versuchen, im letzten Augenblick hindernd einzugreifen? Die Art, in der das geschieht, bildet den Höhepunkt des Filmes, der bereits bis dorthin an Überraschung, Abwechslung sowie tollem Humor ohnegleichen ist. Die Sensationen der Hetzjagd, in die Harold verfällt, wie er der Eisenbahn nachläuft, Autos zertrümmert, Straßenbahnen demoliert, Fuhrwerke bis zum Durchbrennen der Deichsel durchschmort, dann mit verhängten Zügeln dahinrast - das läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Wahrhaft durchgeführte Sensationen, keine Tricks, die in anderen Filmen die Zuschauer in Schrecken versetzen sollen, sind hier die Ursachen eines tollen Gelächters. Man sah bei diesen Szenen, wie sich würdige Männer vor Vergnügen auf die Schenkel schlugen, wie elegante Damen vor Lachen kreischten. Der Ufa-Palast erbebte in den Schlußakten der "Girl-shy" vor Schreikrämpfen, vor Quietschorkanen, vor Lachtornados. Seit Monaten ist in Deutschland nicht mehr so aus innerster Empfindung gelacht worden - wie auch seit Monaten kein Film einen auch nur annähernden Beifall fand. Nach manchen schwächeren Harold Lloydfilmen, die uns im Laufe der Zeit serviert wurden, ist dies ein Film, der wieder einmal ein echter Harold Lloyd ist, einer von denen, die begreifen lassen, daß und warum Harold in der ganzen Welt so populär geworden ist. In den letzten Wochen also wieder Chaplin und Harold Lloyd. Obgleich so wesensverschieden, doch sich berührend in einer sozusagen stoischen Einstellung zu den Dingen, wie es bei Anzengruber heißt: "Mir kann nix g'schehen". Nehmen wir die Lehr' davon und lernen von den amerikanischen Schlemihlen bei aller wilden Herumraserei, daß es noch allemal gut geht, wenn wir uns innerlich nicht zu sehr zerreißen. Vorher sah man eine groß angelegte Bühnenschau: vor allem Ernö Rapées Jazzsinfoniker, in der ganzen Aufmachung natürlich für den Ufa-Palast am Zoo berechnet, keinesfalls auf die Provinz übertragbar, schon aus Gründen der Kosten. Ein Tenor sang im Kostüm des Maharadscha und im spanischen Anzug entsprechende Weisen. Das ausgezeichnete Ufa-Ballett unter Oumanski tanzte dazu im Stil der Lieder und der Zeit. Dann sah man Kitty Valery, des großen Uncle Sam jüngste Tochter. Sie ist zwar noch nicht ganz das, was ihre Mutter auf der Höhe ihrer Kunst und ihrer Glanzzeit war, aber immerhin, Kitty kann sich sehen lassen. (Quelle: Kinematograph, 20.Jg., Nr.994, 7.3.1926) Dieser neue Harold Lloyd-Film hat wohl im Vergleich mit seinen Vorgängern die meisten Titel. Und da diese Titel manchmal ganz "knorke" sind, so werden sie viel und gern belacht. Diese Titel hat der Film sehr notwendig, denn was sich bildlich in den ersten fünf Akten ereignet, ist durchaus unterstützungsbedürftig. Harold Lloyd hat wirklich schon besseres gemacht, und der Ufa-Palast hat auch schon bessere Filme gesehen. Harold ist also ein schüchternes, stotterndes, mädchenscheuendes Schneiderlein, das in seiner Freizeit Liebesabenteuer zu Papier bringt. Schließlich findet sich auch ein Verleger, Harold kriegt Geld und kann das geliebte Mädchen, denn inzwischen hat sich seine Schüchternheit etwas gelegt, noch rechtzeitig den Klauen eines Bigamisten entreißen. Was Grund zu einer tollen Hetzjagd durch die Straßen von Los Angeles bietet und den Zuschauer daran erinnert, daß vor ihm ein "weltberühmtes" amerikanisches Lustspiel über die Leinwand flimmert. Dieser letzte Akt ist herrlich. Das sei neidlos und aufrichtig anerkannt. Wenn Harold Straßenbahn, Auto, Motorrad und schließlich ein Pferdeführwerk in Bewegung setzt, um sein Ziel zu erreichen wenn er ganze Straßenzüge in Aufruhr bringt und alles um-, an- oder überfährt, dann geben die Angstschreie und Beifallskundgebungen im Zuschauerraum eine ebenso passende Begleitmusik wie Rapées Orchester. Also noch einmal: Von allen atemberaubenden Hetzjagden, die uns amerikanische Grotesken bis jetzt vermittelt haben, ist diese vielleicht die tollste. Dieser Akt versöhnt uns mit vielem, was man in den ersten fünf Akten hinnehmen mußte. Man erwartete von einem Harold Lloyd-Film etwas mehr als dieses behaglich dahinplätschernde Geschehen. Natürlich schafft die Routine des Verfassers wieder zahlreiche lustige Einfälle und Situationen, aber es fehlt dem allen doch der richtige Schmiß und, das Tempo - also die Eigenschaften, die wir an Filmen, wie "Ausgerechnet Wolkenkratzer" bewunderten. Der Lichtpunkt dieser Kleinstadtgeschichte ist ein niedliches, temperamentvolles Mädchen, in dessen schelmische Augen man sich verlieben kann. Harold Lloyds Spiel ist jedoch merkwürdig verkrampft, er gibt große leere Gesten und versucht, durch Gesichterschneiden lustig zu wirken. Wenn man an diesen Film zurückdenkt, denkt man nur an den letzten Akt. Und der war ein Erlebnis. Und da der letzte Eindruck in diesem Fall entscheidend ist, und es ein Sprichwort gibt, das "Ende gut, alles gut" heißt, so sei uns dieser Film willkommen! Die Ufa-Palast-Revue, die den Film einleitete, entpuppte sich als eine harmlose Darbietung des Jazz in drei Weltrichtungen: Orient, Spanien und Wildwest. (...) (Quelle: Film-Kurier, 8.Jg., Nr.56, 6.3.1926) (...) Diese Jagd gehört zu den spektakulärsten Sequenzen der Filmgeschichte. (...) Das abschließende Rennen mit dem Pferdegespann nimmt ale Qualitäten der späteren Wagenrennen der Ben Hur-Verfilmungen vorweg, (...). Mehr noch als in den Kletterszenen der Hochhausfilme unterwarf sich Lloyd um eines - allerdings superben - dramatisch-komischen Effektes willen großer Gefahr. Allein die Virtuosität, mit der er die verschiedenen Verkehrsmittel beherrscht, würde heute fast jeden Darsteller überfordern (...). Über dem außerordentlichen Eindruck, den diese Sequenz hinterläßt, vergißt man leicht, daß sie ihre Wirkung zu einem wesentlichen Teil dem sorgfältigen Aufbau der dahin führenden Handlung und der überzeugenden Entwicklung der sie tragenden Charakters [!] verdankt. Einzig der Heiratsschwindler ist eine Klischeefigur; alle übrigen Personen des Geschehens bis hin zu den Sekretärinnen des Verlages sind mit einem liebevollen Blick für das Detail gezeichnet. (...) (Quelle: Wolfram Tichy: Harold Lloyd, Luzern - Frankfurt/ Main 1979, S.75-80)
Anmerkungen: «Was als romantische Komödie über einen verträumten Schneidergesellen beginnt, der in seiner Phantasie zum Frauenhelden wird, endet mit einer halsbrecherischen Jagd per Auto, Feuerwehr, Straßenbahn und Pferdekutsche quer durch Los Angeles. MÄDCHENSCHEU war einer der größten Erfolge Harold Lloyds, des neben Chaplin beliebtesten amerikanischen Stummfilmkomikers. Sein furioses Finale war Vorlage für die Schlußsequenz in DIE REIFEPRÜFUNG mit Dustin Hoffman, bei der Lloyd als Berater mitwirkte.» (Stummfilmtage Bonn)

The immigrant

(Der Einwanderer), Regie:   Charles Chaplin, USA - 1917
Regisseur: Charles Chaplin - Drehbuch: Charles Chaplin - Kamera: William C. Foster - Roland H. Totheroh - Darsteller: Loyal Underwood Small Immigrant - Albert Austin A Diner - Jane Wolfe Olga (AKA Jane Wolff) - Valeska Suratt Masha - Theodore Roberts J.J. Walton - Thomas Meighan David Harding - Gertrude Keller Walton''s Housekeeper - Ernest Joy Walton's Partner - Raymond Hatton Munsing - William Gillespie Cafégeiger - Kitty Bradbury Olga's Mother - Frank J. Coleman Ship's Officer and Restaurant Owner - Stanley Sanford Gambler on Ship - John Rand Tipsy Diner Who Cannot Pay - Edna Purviance Immigrant - James T. Kelley Shabby man in Restaurant - Charles Chaplin Immigrant - Eric Campbell Head Waiter - Henry Bergman The Artist -
Kritiken : «(...) Wie sich aus der Produktionsgeschichte von The Immigrant ersehen lässt (...), wurden zunächst die Restaurant-Sequenzen gedreht, die alsbald eine klassische Suspense-Situation etablieren: Der Held befindet sich in einem Raum, (...) in dem bald eine 'Bombe' (in diesem Fall: der furchterregende Eric Campbell) 'detonieren' wird. Doch obwohl diese Konstellation in drei Varianten durchgespielt wird (und Chaplin allein von der Bohnen essenden Edna Purviance mehr als hundert Einstellungen drehte), ergab diese Situation nicht genug Material für einen "Zweiakter" (...) von etwa 30 Minuten Länge. Mithin wurde die (...) Schiffspassage des Immigranten 'nachgedreht'. (...) Chaplin [verwendete] dabei (...) eine auf einen Drehzapfen montierte Kamera, die (...) Bilder konstanter Schlingerbewegung produzieren konnte. Mit dieser Aufnahmetechnik und Chaplins akrobatischen Fähigkeiten waren die Voraussetzungen geschaffen, um die Vorgeschichte des späteren Paares effektvoll zu inszenieren. Hinzu kamen der Perfektionswille und die damals einzigartige künstlerische Freiheit dieses Autorenfilmers: In einer viertägigen Dauersession wurden mehr als 12000 Meter belichteten Materials auf die benötigte Gesamtlänge von knapp 600 Metern (...) geschnitten.» (Quelle: Jürgen Felix: "Der Einwanderer", in: Thomas Koebner (Hg.): Filmklassiker, Bd. 1 1913-1946, Stuttgart 1995, S.38-39)
Anmerkungen: «Einer der besten Kurzfilme von und mit Charlie Chaplin, der seine Komödie vor einem sehr realistischen Hintergrund entwickelt: Auf einem Schiff aus Europa landet der Tramp in Amerika, wo sich sein amerikanischer Traum jedoch nicht so recht zu erfüllen scheint. Mittellos versucht er in einem Lokal sowohl das Mädchen für sich zu gewinnen als auch eine warme Mahlzeit zu ergattern. Neben raffinierten und virtuosen Gags enthält der Film scharfe Kritik an sozialen Missständen in den USA.» (Stummfilmtage Bonn)

Prasdnik svjatogo Jorgena

(Das Fest des heiligen Jürgen), Regie:   Jakov Protazanov, UdSSR - Sowjet Union - 1930
Produktion: Mezhrabpomfilm - Regisseur: Jakov Protazanov - Drehbuch: Jakov Protazanov - Story : Harald Bergstedt - Kamera: Pjotr Vassiljevitch Jermolov - Architekt: Sergej Kozlovskij - Vladimir Baljusek - Darsteller: Anatoli Ktorov - Igor Ilinskij - Mikhail Klimov - Marija Strelkova Oleandra - Anatoli Gorjunov - Vladimir Uralskij - N Vassilijeva - Feofan Shipulinskij - Ivan Arkadin казначей хр -
Anmerkungen: «Eine böse Satire auf die Geschäfte mit Religion und Heiligen, die von Vertretern der Kirche betrieben werden. Zwei Gauner brechen aus dem Gefängnis aus und mischen sich auf der Flucht vor der Polizei unter die Menschenmassen, die zu einem Wallfahrtsort pilgern. Der Komiker des russischen Stummfilms Iljinski brilliert in einer Paraderolle. Der Regisseur Jakow Protasanow schuf einige der populärsten Filme des sowjetischen Stummfilmkinos - zu denen auch DAS FEST DES HEILIGEN JÜRGEN zählt. » (Stummfilmtage Bonn)

«Während ein Filmteam im Auftrag der Kirche die Legende vom heiligen Jörg voll Pathos inszeniert, dringt ein aus dem Gefängnis geflohener Dieb in ein Gotteshaus ein, um am Reichtum der Kirche mitzunaschen. Er wird überrascht und tarnt sich, in Messegewänder gehüllt, als heiliger Jörg. Die Kirchenobersten verlangen nun vom falschen Heiligen vor der nach einem Wunder lechzenden Menge einen einschlägigen Identitätsbeweis. Der von der Polizei verfolgte Komplize mischt sich jedoch unter die Gläubigen und täuscht Lahmheit vor, die vom falschen Jürgen »geheilt« wird … »Protazanov hat diese antiklerikale Komödie mit Witz und Phantasie in Szene gesetzt. Es gibt intelligente Einfälle, eine Fülle skurriler Typen, überraschende Wendungen und ein zügiges Tempo der Inszenierung.« (Reclams Filmführer)
Protazanov war ein ausgesprochen vielseitiger Regisseur, der die unterschiedlichsten Genres adäquat zu bedienen wusste, wobei er sich stets auf eine Garde exzellenter Schauspieler stützte.» (hp, Filmarchiv Austria)

1935 wurde eine Tonfilmfassung des Films unter der Regie von Protozanov hergestellt.

Safety last

(Sicherheit spielt keine Rolle, Ausgerechnet Wolkenkratzer), Regie:   Sam Taylor, USA - 1923
Produzent: Hal Roach - Regisseur: Fred Newmeyer - Sam Taylor - Drehbuch: Harold Lloyd - Hal Roach - Kamera: Walter Lundon - Schnitt: Fred Guiol - Darsteller: Billy Clarke - Mickey Daniels - Harold Lloyd - Bill Strothers - Noah Young - Mildred Davis -

Song

(Schmutziges Geld, Die Liebe eines armen Menschenkindes), Regie:   Richard Eichberg, Deutschland - 1928
Produktion: Eichberg-Film GmbH, Berlin - Produzent: Richard Eichberg - Regisseur: Richard Eichberg - Drehbuch: Helen Gosewish - Adolf Lantz - Story : Karl Vollmoeller "Schmutziges Geld", novel - Kamera: Heinrich Gärtner - Bruno Mondi - Architekt: Willi A. Herrmann - Darsteller: Heinrich George - Julius E. Herrmann - Paul Hörbiger - Mary Kid - Hans Adalbert Schlettow - Anna May Wong Song -
Kritiken : Song - Anna May Wong in ihrem ersten Europafilm «Die Mongolin aus Hollywood vor der deutschen Kamera des Herrn Gärtner. Und wenn man ihre Gastspiel-Arrangeure überschaut, vom Welt-Literaturreisenden Vollmöller und dem Regisseur freudenvollster Klamauk-Kisten Eichberg bis zu Adolf Lantz, der dem Film die Literatur zuführt, und diesmal die Autorin Helen Gosewish vorstellt, so wird einem ob der widerstrebenden Elemente des Fabrikanten-Kollektivs bange. (Dazu noch England als Supervisor dieses Films!) Aber die Mitarbeiter einigten sich doch, die Gegensätze glichen sich aus, da man allein der Frau vor der Kamera dienen wollte. Das Wagnis ist gelungen: einen (zweiten) Star aus Hollywood wurde in Berlin eine erste Starrolle geschaffen, für die nicht nur der Kurfürstendamm, sondern die Hunder[t]prozentigen aller Rassen Sympathie aufbringen können. Von Hitler bis Ku-Klux-Klan. Schwer war die Aufgabe: Hundert Rücksichten verweisen die Autoren auf mühevolle Konstruktionen. Soll doch ein Film und die Frau, die er ins Licht stellt, nicht nur an einer Ecke gefallen, deren Weltgenossen jedem Menschen das menschlichste Gefühl entgegenbringen, fern aller Fremdheit, und komme er aus fernstem Osten mit aller Mystik seiner Mandel- und Schlitzaugen. Anna May Wong, die Oestliche, hat lang genug in den exotischen Gärten Kaliforniens gefilmt, um zu wissen, wie sie ihre mimische Kraft gegen den konventionellen Filmstil durchsetzen kann. Und Vollmöller hat gewiß aus einem Dutzend der vielen Dutzendfilme, die wir gar nicht erst nach Europa bekommen, die Geschichte von der gedemütigten und erniedrigten Magd abgelesen, in der etwa Viola Danna ein armes Hindumädchen spielt; die ihren Weißen liebt und dran sterben muß. Auch Song muß sterben. Den Liebestod der Andersrassigen. Ach arme Butterfly, ach, arme Song. Die Butterfly-Romantik mit dem Realismus der Sonja-Geschichte Dostojewskys - und die brutal-amerikanische Hafenviertel-Atmosphäre, in dieses Milieu konnte man Anna May Wong stellen, zwischen Literatur und Kintopp, damit diese Yankeechinesin mit den Künsten einer östlichen Nielsen spielen kann. Und sie spielt gut. Auch wenn sie mehr der Venus als der Psyche gleicht und ihre rührende Jungfrau so tapfer strampeln und beißen, so wunderbegabt tanzen kann, daß man ihr und ihren Autoren nicht ganz treu bis in den Tod der Song folgt. Diese behende zähe Krabbe stirbt nicht so leicht. Aber da gibt es eben - das alte Gesetz ... und einen Unglücksfall für's sorry end. Der Film darf das hemmungsvolle Liebepaar nicht zum Paaren treiben ... und so erfinden die Autoren die rührende Geschichte vom Parfüm der fremden Frau, das der erblindete Jack am Körper der verkleideten Song einatmet, so daß er sie anstelle der vermeintlichen Geliebten küßt. Die keusche Magd empfängt den Kuß, der der Herrin gebührt. Filmisch eine besonders gut gelungene Episode der in eine lange aber spannende Kette romantischer Ereignisse aufgelösten Filmgeschichte. Eisenbahnüberfall, Varieté-Attraktionen - bis an die kitzeligen Grenzen der Nervenreizung geht der Film - - wenn Jack von den ausströmenden Dämpfen der D-Zug-Lokomotive erblindet - - oder Song als Varieténummer mit den Wurfmessern verwundet wird. Der Eindruck wird zum Einhämmern. Man spürt den Ueberdruck der Regie. Reine Anschaulichkeit dringt aus dem Bild, sobald May Wong erscheint. Die Mongolin mit dem amerikanischen Girlkörper, in der nur beim Tanz der fremde Rhythmus, ein Wiegen aus dem Pflaumenblütentanz des Urlandes ihren Körper umzaubert. Aber das Antlitz. Augen wie dunkle Truhen. Ihre Wimpern hängen wie ein Baumzweig über ihnen. Ihre Lippen mimen amerikanisch - und doch hat sie vor allen ihren Kollegen ein Geheimnis ihrer Rasse voraus: daß die Maskenstarre ihres Antlitzes fixiert bleibt, auch wenn ihre Augen schreien, ihre Lippen aufbrennen. Dadurch ist sie für die Kamera geradezu auserlesen, die unter Gärtners porträtschaffender Hand denn auch eine Fülle fremden Lebens im fremden Antlitz uns menschlich nahe bringt. Das ist eine große Tat der Film-Technik: das fremde Leben so ins nahe Licht zu bringen. Die übrigen Mitwirkenden, unter denen der lustige Musikant Paul Hörbiger neben der unmöglichen Mary Kiel [!], dem blassen H.A. von Schlettow auffällt, stellen ein befriedigendes Gastspielensemble. Heinrich George gibt die Masse weißer Mensch gegenüber der dunklen Dienerin. Eine undankbare Aufgabe, so lustlos, verschmiert, träge und brutal sein zu müssen. Er hat den Galgenhumor nicht mit ins Atelier gebracht. Auch ihm gelingen ein paar große Augenblicke - - .Die Schminke des Fuhrmann Henschel und der Menschenhaß des Hinkemann sitzen seinem verbummelten Artisten aus der - übrigens in ausgezeichneten Bildern eingeschnittenen Hafenwelt von Konstantinopel - zu tief im Herzen. Ueber allem und vor allem also: das Schauspiel Anna May Wong.(...)» (Ernst Jäger, Film-Kurier 10.Jg. Nr. 199, 21.8.1928) Anna, die Chinesin. Als der "Dieb von Bagdad" bei uns erschien, wies der "Kinematograph" ausführlich auf die Bedeutung der chinesischen Schauspielerin Anna May Wong hin, die zwar im Programm nur als Dienerin der Prinzessin Julanne Johnston erschien, diese aber an Intensität des Spiels und im Umfang der Rolle weit überragte. Der kluge Fairbanks wußte schon, was er tat. Richard Eichberg, der mit Vorliebe unerprobten Talenten in seinen Filmen Gelegenheit gibt, sich auszuwirken, gibt jetzt Anna May Wong Gelegenheit, in einer ganz großen Rolle zu erscheinen. Denn dies ist schließlich auch charakteristisch für Amerika, daß man es nicht wagte, sie in einer führenden Rolle herauszustellen. - Selbst im "Wr. Wu" [!], wo jede Gelegenheit gewesen wäre, wurde Anna nur episodisch beschäftigt, dagegen Renée Adorée in den Vordergrund gerückt, wo sie[,] deren Fähigkeiten auf anderem Gebiete liegen, nicht mit Ehren bestehen konnte. Eichberg öffnet der chinesischen Künstlerin in dem Film "Schmutziges Geld" den Weg zum Weltruhm. Er hat in Neubabelsberg eine Stadt aufbauen lassen, die Singapur sein kann oder eine andere Hafenstadt des Ostens, worin Anna May Wong, wie aus der eben gefilmten Szene hervorzugehen schien, eine Hafendirne ist. Wenigstens schien Heinrich George, dem nach Wochen der Bartlosigkeit wieder ein Schnauzer über die Lippen hängt, ein betrunkener Matrose zu sein, der die Chinesin liebt. Mit ganz sparsamen Bewegungen, mit einem Schluchzen im Halse, das zu Herzen gehen wird. Die May Wong spiegelte in dieser Szene die Empfindungen Georges in ihrem Gesicht. Man weiß, daß diese Künstlerin vor allem mit den Augen spielt. Sie ging hier über den Kreis der bisher geübten Schauspielkunst hinaus.» (Quelle: Kinematograph, 22.Jg., Nr.1107, 6.5.1928; Rubrik: Hinter Filmkulissen) "Song" «Große Premiere in der Alhambra am Kurfürstendamm, dem umgebauten, renovierten Theater, das jetzt von Eugen R. Schlesinger geführt wird und das in Paul Dessau einen wertvollen, geschickten Kapellmeister bekommen hat. Man eröffnet das verjüngte Haus mit dem ersten Film, den Eichberg in Deutschland für British International gemacht hat, zeigt in dem Stück Anna May Wong, den Star, der unbedingt die Geschichte vom kleinen Malaienmädchen trägt und mit Heinrich George zusammen den Erfolg des Abends entscheidet. Die Handlung, das muß klar gesagt werden, ist schlimmste Hintertreppe. Da wird ein kleines Malaienmädchen im Hafen von Jack, dem Artisten, gerettet, aber zwei Minuten darauf beinah gewaltsam dazu gezwungen, Zielscheibe beim Messerwurf in einer Vorstadtkneipe zu werden. In diese Kneipe ist der einst bedeutende Artist gekommen, weil er auf eine Frau eifersüchtig war, seinen Nebenbuhler ins Wasser warf, selbst nachsprang und nachher in der Großstadt untertauchte, um sich der irdischen Gerechtigkeit zu entziehen. Man kann sich denken, was sich ungefähr tut, wenn die Tänzerin und Jack zusammentreffen. Nein, man kann es nicht, denn hundertundfünfzig Meter ist sie wahnsinnig in ihn verliebt, zweihundert Meter weist sie ihn von sich, und schließlich geht er unter die Räuber, um Geld zu verdienen. Er überfällt mit Komplicen einen Eisenbahnzug, verliert dabei das Augenlicht und redet sich ein, daß die Tänzerin ihn heilen läßt. In Wirklichkeit stammt das Geld von der Anna May Wong, die es aber gestohlen hat und die dafür einem jungen Mann gefällig sein muß. Das heißt, genau weiß man das nicht, weil sie plötzlich als große Tänzerin im Palast-Varieté auftritt. Jedenfalls erhält Jack das Augenlicht wieder, vergreift sich an seiner Retterin, sucht erst die tanzende Dame, und als er schließlich erfährt, was eigentlich los ist, die kleine Malaiin, die sich in diesem Augenblick in Schwerter stürzt, zwischen denen sie tanzen soll. Einige Leute behaupten, daß Anna May Wong am Schluß stirbt, daß Heinrich George blind wird. Ganz klar ist die Sache nicht erwiesen. Diese fürchterliche Geschichte hat Eichberg ausgezeichnet inszeniert. Er gibt ihr dekorativ den großen Rahmen, fügt fabelhafte Szenen aus Varieté und Kababett [!] zu, läßt elektrisches Licht in allen Beleuchtungseffekten spielen und macht aus Konstantinopel, dieser Stadt, die sich in ganz Europa am wundervollsten photographiert, so eine Art Film-Singapur. Er entdeckt Anna May Wong nicht nur für Europa, sondern vielleicht für den Film, denn er stellt diese hochtalentierte Frau zum erstenmal in einen großen Rahmen, macht aus ihr eine asiatische Mary Pickfort, die in Heinrich George einen unübertrefflichen Partner hat. Dieser Mann findet sich selbst durch diesen Kitsch durch, der in der Idee von Vollmöller stammen soll, und der im einzelnen von Herrn Adolf Lantz und Frau Helen Gosewish verantwortlich gezeichnet ist. Sein Jack wird zu den großen schauspielerischen Leistungen deutscher Filmkunst gehören. Er bedeutet neben der May Wong den einzigen Gewinn. Frau Mary Kid wirkt deplaciert, Adalbert von Schlettow kann mit seiner Rolle nichts Rechtes anfangen und Paul Hörbiger sich nicht entfalten. Wenn es Beifall gab, ist das Eichbergs Regie und den beiden Hauptdarstellern zu verdanken. In der Provinz, wo man an das Manuskript nicht so große Anforderungen stellt, wird der Film ein gutes Geschäft.» (Quelle: Kinematograph, 22.Jg., Nr.1146, 23.8.1928) Song «Ein glücklicher, großer Start. Die schlanke Chinesin mit den rätselvollen, unergründlichen Augen, Anna May Wong, hat auf der ganzen Linie gesiegt. Nicht etwa, weil ihre ostasiatische Fremdheit und Scheu bezaubert. Sondern, weil sie eine Gestalterin hohen Grades ist, eine Künstlerin, wie sie der Weltfilm nur ganz wenige besitzt. Carl Vollmöller, der Vielgewandte, der Mirakelmann, hat eine Novelle geschrieben, in der ein kleines Chinesenmädel an der Liebe zu einem Manne, der von dieser Liebe nur leichtweg das Körperliche nimmt, zugrunde geht. In einem Milieu, das trostlos und bunt zugleich ist: Hafenkneipe einer orientalischen Stadt am Meer, eine Mischung von Marseille, Konstantinopel und Aden. In einem Vorstadtvarieté, einem kahlen Zimmer und einem Luxushotel vollziehen sich die Schicksale, bunt, seltsam und doch vom Hauch einer tiefen Menschlichkeit umweht. Die Manuskriptbearbeiter Adolf Lantz und Helene Gosewich haben den rein psychologischen Stoff Vollmöllers auf Filmwirkung bearbeitet. Es ist dabei weniger ein geschlossenes, von Steigerung zu Steigerung schreitendes Drama herausgekommen, als ein fesselnder Filmroman mit dramatischen Effekten, mit stark vorgetriebenen Spannungen, mit glücklichen Situationen. Die Figuren sind mit bemerkenswerter Plastik herausgearbeitet: insbesondere die mit geradezu hingebender Liebe ziselierte Gestalt, die Anna May Wong zu verkörpern hat und aus der sie, vorweg bemerkt, ein menschliches Erlebnis ersten Ranges macht. Ein Artist, breitschultrig, brutal, irgendwo von einer gelassenen Gutmütigkeit, befreit ein kleines Chinesenmädel von zwei Burschen, die sie bedrängen. Unausbleibliche Folge: sie geht nicht mehr von ihm. Er tritt in einem Hafenvarieté auf, hat eine Nummer, in der er mit breiten Messern die Silhouette einer menschlichen Gestalt abtastet. Die schlanke Chinesin wird jetzt Partnerin des Messerspielers, sie tanzt und verkauft an die lärmenden, lüsternen Gäste der Kneipe Postkarten. Für den Artisten ist sie die Partnerin, mit der man zusammenlebt, die mit zu den Aktiven gehört, ohne daß irgendwelche gefühlsmäßigen Bande ihn verpflichten. Denn er ist ein Mann mit einer Vergangenheit, von der nicht loszukommen ist. Einstmals liebte er eine Artistin, warf ihretwegen einen Mann ins Meer und verschwand, angeblich ertrunken. Und diese Frau taucht jetzt plötzlich als gefeierter Star auf, eine Laune läßt sie ihren Freund bitten, sie in ein Hafenvarieté zu fahren - und da sehen sie sich wieder. Auch in dem großen Varietéstar erwachen kleine Gefühle. Nicht übermäßig, aber sie flirtet mit dem heruntergekommenen Geliebten von ehemals. Er nimmt die leichte Laune für das Wiedererwachen der großen Liebe, er braucht nur Geld, Geld, um mit dieser Dame standesgemäß aufzutreten. Aber das Geld liegt nicht auf der Straße: er beteiligt sich an einem Eisenbahnüberfall, der einen sensationellen Höhepunkt des Films bildet. Der Überfall mißlingt, der Artist versteckt sich unter der Lokomotive - und zischend, dampfend, pfeifend braust der Zug über ihn weg. Als er sich wieder erhebt - die Schienen sind tief gelagert - haben ihm die heißen Dämpfe die Augen verletzt. Langsam spürt er, daß er erblindet ist - und nun erwacht in der kleinen Chinesin eine rührende Geliebte, die nur für den brutalen, finsteren Mann da ist, den sie liebt und der leidet. Mit einer scheuen, stillen Zärtlichkeit sorgt sie für ihn, sie gibt sich hin, sie stiehlt, sie tanzt im Hotel - und zieht sich ihre Lumpen an, um in die Klinik zu dem Erblindeten zu gehen. Sie spielt die Rolle des Varietéstars, nach der seine Leidenschaft verlangt, nur um ihm eine glückliche Minute zu verschaffen. Und als er, glücklich operiert, diesen Betrug merkt, packt er sie wie ein Paket und schleudert sie auf die Straße. Zerschlagen wankt sie in das Luxushotel zurück und tanzt, in einem wunderbaren Kostüm, einen alten chinesischen Schwertertanz. Da erfährt er, daß der Varietéstar seit Wochen abgereist ist, daß alles, was er Gutes auf ihr Konto gesetzt hat, von der kleinen, scheuen, mißhandelten Chinesin für ihn getan ist, und er stürzt in das Hotel. Sie tanzt gerade zwischen den aufgerichteten, blitzenden Schwertern: da erscheint er, sie erschrickt und stürzt in einen der blitzenden Dolche. Wie ein Urmensch schleppt er sie auf seinen Armen in seine kahle Stube: und noch ihr letztes Wort, als seine Tränen fließen, ist die scheuliebende, mitleidsdurchwärmte Frage: "Tun dir noch deine Augen weh?" Und dann stirbt sie, still und menschenfern, wie sie in diesem ganzen, wundervoll menschlichen Film vor uns gelebt hat. Wenn ein Meister der Publikumswirkung wie Richard Eichberg einen so schweren, psychologisch zerklüfteten Stoff anfaßt, darf man damit rechnen, daß er ihn in filmwirksame Formen umgießt. Und er hat dieses schwierige Problem kunstvoll gelöst. Der Film verläßt nicht eine Minute lang sein hohes Niveau, und er ist so mit inneren Spannungen, optischen Reizen, überraschenden Situationen angefüllt, daß man immer neu mitgerissen wird. Und Eichberg hat die spezifischen filmischen Einfälle mit solcher Diskretion in den Rahmen der menschlich ergreifenden Handlung eingebaut, daß sie sich zwanglos in das schwermütig-farbige Gebilde einfügen. Der Film ist bewußt eine einzige Rolle für Anna Wong, die eine Gestalt schafft, rührend wie die Gish, von einer anmutigen Heiterkeit, mit einer hingebenden, stillen Schwermut. Es ist vielleicht der beste Vergleich, den man gestern von einem alten Filmmann hörte: eine jugendliche Asta Nielsen. Anna May Wong kann wirklich alles: Hingabe, Scheue, Trauer, Heiterkeit - alles bringt sie zwanglos, natürlich und mit einer ungeheuer einfachen Gebärde. Man weiß natürlich nicht, wieweit hier Richard Eichbergs erfahrene Hand geführt hat. Aber jeder war überrascht, weil sich die Wong nie wiederholte, wie immer ein neuer Ausdruck kam, wie ungezwungen Trauer, Anmut und Drolerie sich in ihrem Spiel vermischte. Dieser deutsche Film wird mit seinem eigenen Erfolg den Ruhm Anna May Wongs als einer der größten Filmkünstlerinnen durch die Welt tragen. Ihr Partner ist Heinrich George, der allmählich in das Format großer Menschgestaltung hineinwächst. Er hat die große darstellerische Begabung, auch das Unsympathische und Brutale einer Erscheinung noch menschlich verständlich und dadurch erträglich zu machen. Er ist ein Meister der Zwischentöne und es ist vor allem seiner Kunst zu verdanken, daß sein Artist bei aller Herzensroheit noch menschlich erträglich blieb. Etwas blaß und farblos war Mary Kid als Varietéstar: man hätte als Gegenspielerin für May Wong mehr eine dämonische, als eine blonde Schönheit erwartet. In einer kleinen Rolle fiel Paul Hörbiger auf, der witzig und mit unverwüstlichem Temperament einen Harmonikaspieler auf die Beine stellte. Ganz hervorragend war die photographische Leistung des Films, für die an erster Stelle Heinrich Gärtner verantwortlich zeichnet, mit ihm Bruno Mondi. Es war geradezu ein Meisterstück der modernen Kamerakunst. Es sei hier nicht einmal von einzelnen Effekten gesprochen, wie etwa die photographische Gestaltung des Erblindens, sondern nur von dem allgemeinen Niveau, das geradezu vorbildlich zu nennen ist. Die Gestalten sind außerordentlich individuell photographiert, die Beleuchtung löst die Figuren von den Wänden, es ist nicht übermäßig "gesoftet" und es sind auch harte Effekte da, wo sie hingehören: kurzum, es ist ein mit seltener Liebe und seltener Kunst photographierter Film. W.A. Hermann hat stilvoll und mit großer künstlerischer Wirkung gebaut. Das Publikum war begeistert und Beifallssalven brausten durch das Theater, und die Künstler Anna May Wong an der Spitze, konnten sich nicht oft genug zeigen.» (M.P., Lichtbildbühne 21.Jg., Nr.201, 21.8.1928)

Der goldene See

(Erstes Abenteuer aus dem Zyklus «Die Spinnen», Die Abenteuer des Kay Hoog), Regie:   Fritz Lang, Deutschland - 1919
Produktion: Decla-Film Gesellschaft, Holz & Co., Berlin - Produzent: Erich Pommer - Regisseur: Fritz Lang - Drehbuch: Fritz Lang - Kamera: Emil Schünemann - Architekt: Otto Hunte - Carl Ludwig Kirmse - Hermann Warm - Heinrich Umlauff - Darsteller: Paul Morgan Experte - Hans Lanser-Rudolff - Thea Zander Ellen Terry - Reiner Steiner Kapitän des Brillantenschiffs - Edgar Pauly Vierfinger-Joe - Ressel Orla Lio-Sha - Paul Biensfeldt All-Hab-Mah - Rudolf Lettinger John Terry (AKA Bruno Lettinger) - Friedrich Kühne All-Hab-Mah - Georg John Dr. Telphas - Harry Frank All-Hab-Mah - Carl de Vogt Kay Hoog - Lil Dagover Sonnenpriesterin -
Kritiken : Der goldene See - Der erste deutsche Abenteurer- und Fortsetzungsfilm «Ein doppeltes Wagnis hatte die Decla mit dem ersten Film des Abenteuer-Zyklus "Die Spinnen" unternommen: zunächst galt es, den Abenteurerfilm in seiner bewussten Beschränkung auf spannende, gut durchdachte Handlung ohne jede literarische Ambition zu bringen. Er musste kommen, mit Naturnotwendigkeit sozusagen, nachdem der erotische Film seine Anziehungskraft so ziemlich verloren und der Detektivfilm auf dem Sterbebett liegt. Der Erfolg, den "DER GOLDENE SEE" (von Fritz Lang) bei seiner Vorführung in den Richard-Oswald-Lichtspielen erzielt hat, beweist, dass der Abenteurerfilm neben dem mystischen Film auf absehbare Zeit den Filmmarkt beherrschen wird. Rückkher zu Karl May und zum guten alten Lederstrumpg, den wir alle einmal als Jungen mit Entzücken verschlungen haben. Aber darüber hinaus noch ein Neues: der erste deutsche Film mit Fortsetzungen, der mit voller Absichtlichkeit nach dem Muster des Kolportage-Romans den Zuschauer in ungeduldiger Erwartûng auf die nächste Fortsetzung zurücklässt und auf diese Fortsetzung mit allen Mitteln hinweist. Auch in dieser Hinsicht ein unbestrittener Erfolg. In den Tempelruinen von Yucatan, wo Nachkommen der alten Inkas ihre uralten Gebräuche bis heute erhalten haben, beginnt die Handlung. Eine Flaschenpost trägt Kunde von diesen dort gefangenen Forschern hinaus ins Weltmeer. Amerikas bester Sportsmann, Kay Hoog, fischt sie auf und beschliesst, die geheimnisvollen Geldschätze aufzusuchen. Schon in der ersten Nacht entwenden vermummte Gestalten ihm die Flaschenpost und die Karte jener Gegend. Der Geheimbund der Spinnen hat die Netze in die Hand genommen. Es beginnt der Kampf zwischen Kay Hoog und der Millinärin Lio Sha, die jenen Geheimbund leitet. In Ballon gelangt der Sportsmann an den goldenen See, rettet die Sonnenpriesterin aus Lebensgefahr und bald auch Lio Sha, die in die Hände der Indianer gefallen ist und die nun geopfert werden soll. Mit Hilfe eines abenteuerlichen Gefährtes entflieht er und die Priesterin, während den Spinnen ihre Goldgier zum Verderben wird. Schon bald bereitet sich zwischen Lio Sha und Kay Hoog der zweite Zusammenstoss vor, der den Kern der ersten Fortsetzung bildet. Überflüssig zu sagen, dass Sensationen von fabelhafter Spannung mit einer unerhörten Ausstattung wetteifern. Sind doch die alten Mayabauten, die Sitten und Kostüme jener Zeit unter Mithilfe hervorragender Gelehrter mit einer Echtheit rekonstruiert worden, wie sie nur deutscher Gründlichkeit möglich ist. Als Hauptdarsteller waren Carl de Vogt, Ressel Orla und Lil Dagover (als Sonnenpriesterin) unübertrefflich. Die Photographie von Emil Schünemann bis auf letzte Kleinigkeiten hervorragend.» (DER FILM, Zeitschrift für die Gesamt-Interessen der Kinematographie, Hauptschriftleiter Dr. jur. Alfred Fiedler, 4. Jahrgang Nr. 41 / 1919, pg 43f) "Der goldene See". «Erstes Abenteuer des Decla-Abenteurerzyklus "Die Spinnen" (Abenteuer des Kay Hoog in bekannten und unbekannten Welten), verfaßt und inszeniert von Fritz Lang. Photographie Emil Schünemann. Decla-Film. Die Decla-Film-Gesellschaft, die vor kurzem mit einem Riesenkapital neu fundiert wurde, beweist auch mit diesem Film, daß sie nicht nur an Kapitalkraft, sondern auch an Leistungsfähigkeit in die erste Reihe der großen Filmgesellschaften einrückt und daß die deutsche Filmindustrie, wie das auch bereits andere Neuerscheinungen der allerletzten Zeit klar bewiesen haben, auf dem Wege ist, Werke zu schaffen, die auch das Ausland interessieren werden. Der Film, der gerade zu den breiten Massen spricht und eine ausgedehnte Verbreitungsmöglichkeit besitzt, ist ein vorzügliches Propagandamittel, und man wird sich im Ausland vor den ausgezeichneten Neuerscheinungen auf dem deutschen Filmmarkt dem Eindruck nicht verschließen können, daß deutsche Tüchtigkeit und Arbeitsfreudigkeit allen Schicksalsschlägen zum Trotz bereits wieder emsig am Werke ist und daß die deutschen noch immer "fixe Kerle" sind. Mit ihrem Abenteurerzyklus hat die Decla-Gesellschaft einen geschickten Griff getan. Sie beabsichtigt mit dieser Serie mit der amerikanischen Filmindustrie, die besonders den Wild-West-Film pflegte, in Konkurrenz zu treten und, nach der ersten Probe zu urteilen, ist ihr das auch mit Erfolg gelungen. Der Film ist außerordentlich spannend und gibt zu tollkühnen Szenen reichlich Gelegenheit. Dazu kommt das interessante Milieu, in das die Handlung verlegt wird; sagenhafte Orte aus der Zeit der Inkas, die im Film zu neuem Leben erstehen. Man ist mit großer Gewissenhaftigkeit dabei zu Werke gegangen und hat eine Autorität auf ethnographischem Gebiet, Herrn Heinrich Umlauff, den Schöpfer und Besitzer des völkerkundlichen Museums in Hamburg, zu Rate gezogen, unter dessen kundiger Leitung Rekonstruktionen von Bauten und Skulpturen aus der Inkazeit entstanden. Auch auf Echtheit der Kostüme wurde besonderer Wert gelegt und die Gebräuche der alten Inkas, besonders der Sonnenkult, wirkungsvoll veranschaulicht. Hierdurch bekommt die ganze Vorführung auch einen gewissen erzieherischen Wert. Wundervoll wirkten zum Teil auch die exotischen Landschaftsbilder, und man muß auch hier die Kunst des Regisseurs bewundern, wenn man bedenkt, daß alle diese Aufnahmen im Inland gemacht wurden. Karl de Vogt vom Berliner Schauspielhaus verkörperte ausgezeichnet den Abenteurertyp des Kay Haag [!]. Er ist in allen Künsten bewandert, reitet wie ein Cowboy, schwimmt, klettert mit großer Kühnheit und Gewandtheit und fingiert sogar einen Absturz mit dem Fallschirm aus dem Korb eines Luftballons, den er zuvor tollkühn am Seil erklettert hat, als der Ballon bereits im Aufstieg begriffen ist. Ihm ebenbürtig in Spiel und Gewandtheit ist Ressel Orla, sowohl als elegante amerikanische Sportlady und Millionärin, wie als gewagte Abenteuerin und Oberhaupt der "Spinnen", jenes Geheimbundes, der der Serie den Namen gibt. Lil Dagover war, bekleidet und unbekleidet, eine reizende Sonnenpriesterin, Georg John gab, originell in Spiel und Maske, den Dr. Telphas. Auch alle anderen Mitwirkenden sind lobend zu erwähnen. Prächtig waren die Typen der beiden alten Inkapriester, besonders der eine, ein wahres Adlergesicht, im Profil wie gemeißelt. Die Regie gab zum Teil packende Bilder, am wirkungsvollsten das Bild der Höhle unter dem goldenen See, mit den alten Goldschätzen der Inkas und die darin erfolgende Explosionskatastrophe, bei der die ganze Abenteurergesellschaft den Tod findet, teils durch Einstürzen der Gewölbe, teils durch hereinbrechende Wasserfluten. Den Inhalt der Handlung, die überaus lebhaft, vielseitig und wechselvoll ist, kann man mit wenigen Worten nicht andeuten. Leider war die Szenenfolge zu Beginn etwas sprunghaft, so daß der Zusammenhang schwer zu erfassen war. Im Verlauf des Spiels findet dann aber ein etwas engerer Zusammenschluß statt. Alles in allem ein Film, der auch ein sehr verwöhntes Publikum befriedigen kann. Mit Stolz darf die heimische Industrie auf dieses Filmwerk blicken, mit Neid wird das Ausland unseren Filmaufschwung an dieser Schöpfung anerkennen müssen.» (L.B. [= Ludwig Brauner], Der Kinematograph, 13.Jg., Nr. 666, 8.10.1919, pg 26 und 29) "Der goldene See" Seitdem es eine deutsche Filmindustrie gibt, bemüht man sich, dem sogenannten Abenteurerfilm, der in Amerika einen großen, wenn nicht den größten Teil der gesamten Produktion umfaßt, eine unserem, mehr auf das darstellerische Moment gestützten Empfinden angepaßte Form zu geben, sozusagen ihn aus dem Amerikanischen ins Deutsche zu übersetzen. Wenn dies bisher nicht gelungen ist, so war hauptsächlich das fehlende landschaftliche Milieu daran schuld, das keine Möglichkeiten von Abwechslung, Romantik und Exotik bot. Erst als die Decla sich die formenreiche, durch die Anlage für solche Zwecke geradezu ideale Landschaft des Hagenbeck'schen Tierparkes in Stellingen sicherte, war mit einem Schlage die letzte Schwierigkeit behoben. Wenn man die Bilder des Abenteurerfilms "Der goldene See", den unsere Leser aus der Romanbearbeitung kennen, vor sich abrollen sieht, dann wird der Eindruck der exotischen Gegend so restlos erweckt, wie man es innerhalb der Grenzen Deutschlands kaum für möglich gehalten hätte. Und daß dieser neue Weg so vollkommen zum Ziele führen konnte, ist ein Verdienst des Regisseurs Fritz Lang, der die natürlichen und künstlichen Mittel, die ihm gegeben waren zu Szenen von unerhört packender, lebendiger Wirkung zu nützen verstand. Der Kampf um das Gold etwa und der Wassereinbruch in die unterirdische Höhle gehört zu jenen Bildern, deren Ausdruckskraft lange in Erinnerung bleibt. Das wesentliche Merkmal, das diesen Film von anderen seiner Art unterscheidet, ist das starke Hervortreten des schauspielerischen Elementes in Verbindung mit der für den Abenteurerfilm unerläßlichen Reihe von Sensationen. Und hier standen drei künstlerische Persönlichkeiten dem Regisseur zur Verfügung, die für ihre Aufgaben wie geschaffen scheinen. Vor allem die männlich aufrechte Energie und die elastische Spannkraft Karl de Vogts, die der Figur des Abenteurers vollendete Gestalt gibt. Er hat Momente von hinreißender Ausdrucksfähigkeit. Nur für die Schlußszene hätte man ein wenig mehr Innerlichkeit gewünscht. Aber das ist nur ein kleiner Schönheitsfehler gegenüber der prächtigen Gesamtleistung. Ressel Orla ist seine Gegenspielerin. Hart, trotzig, voll elementarer Leidenschaftlichkeit. Wenn sie in heftigem Aufwallen den Kopf mit einem Ruck emporwirft, so liegt darin mehr als bei vielen anderen in einer ganz ausgespielten Szene. Ihre Augen und das Muskelspiel des Gesichtes haben außerordentliche mimische Bedeutung. Lil Dagover bildet zu ihr den denkbar größten Gegensatz. Sie ist ganz weiche, schmiegsame Anmut, weiblich Hingebung und unschuldsvolle Lieblichkeit. Ihre Angst, ihr namenloses Entsetzen und ihr kindliches Vertrauen erwecken stärkstes Mitempfinden. Dazu kommt noch die am tänzerischen geschulte Liniengebung ihrer Körperbewegungen, die in jedem Augenblick von schönster Bildhaftigkeit sind, ohne darum an lebendiger Natur zu verlieren. Ihnen schloß sich mit bestem Gelingen Georg John an. In zwei Episodenrollen zeigte Paul Morgan seine vielseitige, komische Gestaltungsgabe. Das Publikum folgte den interessanten, mitunter zu atemberaubenden Momenten gesteigerten Vorgängen, die von Anfang bis zum Ende ein straffes, rasches Tempo einhalten, mit gespannter Aufmerksamkeit und lohnte viele der wirkungsvoll gestellten Bilder durch lauten, spontanen Beifall.» (Dr. I.B. Film-Kurier, Nr. 104, 5.10.1919) "Die "Decla" hat den ersten Film ihrer "Spinnen"-Serie, das 5aktige Drama "Der goldene See" in einer Presse-Vorführung uns gezeigt, und uns ganz außerordentlich überrascht! Was Fritz Lang uns da bietet, ist eine eingehende Fülle märchenhafter Wunder und Großartigkeiten, die ungemein glücklich in eine spannende, aufregende Handlung gebaut und verwoben sind, so daß unser Interesse fort und fort wach erhalten wird. Die Sensationen, die an die Nerven der Zuschauer starke Zumutungen stellen, sind so diskret angewandt, so selbstverständlich und natürlich, daß man keinen Augenblick empfinden kann, sie seien absichtlich gemacht, vielmehr wachsen sie organisch und logisch aus der Handlung heraus und sind ein richtiger Bestandteil dieser. Dazu eine blendende, reiche, luxuriöse Aufmachung und Ausstattung von fabelhafter, wirklich großzügiger Prachtentfaltung. Die einzelnen Bilder überbieten sich an blendender Schönheit und an seltsamem, fremdem Reiz, der manchmal bezwingende Formen annimmt. Die Regie hat mit feinstem, abwägendem Verständnis und mit sicherem Blick für echte Kinowirksamkeit diese Bilder sorgsam ausgefeilt und in der Handlung Steigerungen durchgeführt, die dramaturgisch als außerordentlich glücklich bezeichnet werden können. Leider hält die Darstellung nicht überall gleichen Schritt. Carl de Vogt in der männlichen Hauptrolle ist sehr gut in jenen Momenten, da sein kühles Temperament, seine Ueberlegenheit, zum Ausdruck kommen soll; in stärker pulsierenden Szenen, wie z.B. am Schlusse, da er Naela als Leiche findet, könnte stärkerer Gefühlsausbruch sicherlich nicht schaden, wäre auch menschlich begreiflich und natürlich. Frl. Ressel Orla, die doch nach Berliner Urteilen zu den vielen Stars zählt, hätte ebenfalls so manches ganz anders anpacken und durchführen müssen. Die Herrschaften können sich so schwer, so furchtbar schwer vom "Theater" freimachen und wenn sie posieren, glauben sie zu "spielen". Im Film soll man aber weder spielen noch posieren, sondern einzig und allein wahr sein, das Leben darstellen! - Die technische Ausführung des Films ist tadellos, nach jeder Richtung hin vollendet und sorgsamst durchgearbeitet. - » (Quelle: Der Kinematograph, 13.Jg., Nr.665, 1.10.1919, pg 37) "Der goldene See". «Die Decla-Film-Gesellschaft führte in einer Presseaufführung ihren Fritz Langschen Film "Der goldene See" vor, der als erster der "Spinnen"-Serie die seltsamen und wunderbaren Abenteuer des amerikanischen Millionärs Kay Hoog (von Carl de Vogt dargestellt) verbildlicht. Die fünf Akte des "Goldenen Sees" stellen an Regie, Darstellung und Ausstattung wie nicht minder an den Operateur kaum zu bewältigende Aufgaben, - aber sie werden restlos gelöst, in großem und überlegenem Stil. Man sieht, die "Decla" hat weder Mühen noch Kosten gescheut, etwas Großes und Überragendes zu schaffen und das ist ihr vollauf gelungen. Es würde wahrlich viel zu weit führen, wollten wir auf Einzelheiten eingehen: diese türmen sich vielmehr in so reichem Maße, daß unser Auge fortwährend gefesselt ist und unsere Anteilnahme wie unser Interesse keine Sekunde erlahmen. Dabei eine wahrhaft prachtvolle Ausstattung, - bis ins letzte und kleinste Detail sorgsamst abgewogen, stilecht, vornehm und gediegen. Es geht ein Zug von Größe durch dieses Werk. Die Handlung, in der Hauptsache auf dem Wesen des Detektivfilms basierend, es aber ablehnend, Detektivs auftreten zu lassen oder sich nach dieser Richtung hin zu entwickeln, neigt viel eher zum Gesellschaftsfilm mit sensationellem Anstrich, der aber diskret durchgeführt ist, so daß schließlich die Sensationen nicht als solche erscheinen, sondern als organische und selbstverständliche Begleiterscheinungen all der logisch sich entwickelnden Geschehnisse. Erst aus ihrem inneren Zusammenhang heraus wachsen die mächtigen, rätselhaften - übrigens sehr bald geklärten - Eigenheiten, die bis zum tragischen Ende führen. Die Darstellung war vortrefflich. Freilich hätte ich am Schlusse, da Kay Hoog seine geliebte Naëla (Lil Dagover) als Leiche findet, etwas mehr seelische Erschütterung gewünscht. Die furchtbare Entdeckung kam in seinem Spiel so wenig zum Ausdruck, und der Kummer darüber ebenso. Auch Ressel Orla hat viele Momente gehabt, die stärker, schärfer und präziser hätten herausgearbeitet werden müssen.» (O.G. Film-Kurier Nr. 100, 1.10.1919)

Die Spinnen II - Das Brillantenschiff

Regie:   Fritz Lang, Deutschland - 1920
Produktion: Decla-Film Gesellschaft, Holz & Co., Berlin - Produzent: Erich Pommer - Produktionsleiter: Rudolf Meinert - Regisseur: Fritz Lang - Drehbuch: Fritz Lang - Kamera: Karl Freund - Emil Schünemann --??-- - Schwenker: Robert Baberske - Schnitt: Paul Falkenberg - Architekt: Otto Hunte - Carl Ludwig Kirmse - Heinrich Umlauff - Hermann Warm - Darsteller: Carl Hoffmann - Edgar Pauly Vierfinger-John - Karl A. Römer - Meinhardt Maur Chinese - Reiner Steiner Kapitän des Brillantenschiffes - Gilda Langer (--??--) - Thea Zander Ellen Terry - Ressel Orla Lio-Sha - Paul Morgan Jude - Rudolf Lettinger Diamantenkönig John - Friedrich Kühne Yogi All-hab-mah - Georg John Dr. Telphas - Carl de Vogt Kay Hoog - Lil Dagover --??-- -
Kritiken : Der Bankraub ist Langs erste wirklich meisterliche Einstellung. Er filmt von oben ein Geschoß, das in zahlreiche Bürowaben unterteilt ist. Darüber öffnet sich ein freier Raum bis unter die Decke, der allein dem Blick vorbehalten ist. Ein Nachtwächter versieht seinen Dienst, die Einbrecher bewegen sich in diesem Labyrinth so, dass er sie nie zu Gesicht bekommt. Tom Gunning hat in seinem Buch über die Allegories of Vision and Modernity bei Lang gezeigt, dass Lang für diese Szene vermutlich ein Vorbild in einem Film von Maurice Tourneur hatte (ALIAS JIMMY VALENTINE, 1915), dass er die überblicksperspektive aber entscheidend reduziert hat: Es ist jetzt nicht mehr die souveräne überwachung eines verbrecherischen Geschehens zu sehen, sondern der unverwandte Blick auf ein verstohlenes Hin und Her, dessen Sinn sich erst mit der Zeit erschließt. Für Gunning ist der zweite Teil des SPINNEN-Films ein entscheidender Fortschritt des Regisseurs Lang: Hier geht es nicht mehr allein um ein Abenteuer in exotischer Umgebung, dessen Protagonisten aus einem im Grunde sportlichen Prinzip vorgehen, hier geht es bereits um die Fundamente der modernen Gesellschaft. Es gibt erste Elemente dessen, was sich später zu der Vision von METROPOLIS entwickeln sollte: Die Vorstellung einer Unterwelt, nicht wie im ersten Teil unterhalb eines fernen Reichs, sondern unter der modernen Stadt selbst. Zwar bedarf es auch hier noch eines eigenen ethnischen Raums der Vermittlung, denn der Zugang zur Unterwelt findet sich in Chinatown, aber die Durchdringung der Welten ist bereits entscheidend fortgeschritten. In der Lobby eines mondänen Hotels treffen die Protagonisten aufeinander, ohne ihre Anonymität aufgeben zu müssen. Die Organisation der Spinnen bekommt konkrete Züge, sie wird mit dem Bild einer Maschine gefasst, und das ,Stahlhaus" funktioniert wie eine überwachungszentrale, in der sich die Befehlsgewalt immer noch eine Hintertür offen halten kann. Kay Hoog hingegen verfügt über eine ganz auf seine Bedürfnisse hin entworfene, mobile überlebenszelle. Die Razzia auf das Stahlhaus krönt er durch einen Zugriff aus der Luft, sie bringt aber trotzdem nicht den gewünschten Erfolg, und es liegt neuerlich an einer Bewegung des Abstiegs, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Die Weltreise mit dem Schiff, die bis auf die Falkland-Inseln führt, ist letztlich eine ferngesteuerte. Eine Hotel-Lobby in London ist die Szene der Entscheidung: Dazu müssen Vertreter aller möglichen Organisationen auf den Plan. Die Spinnen enden mit einer ersten Idee von Globalisierung. (Filmarchiv Austria) Das Brillantenschiff. - Der "Spinnen" II.Teil. «Kay Hoog, der durch die Intriguen Lio Shas das Liebste, was er besaß, verloren hat, sinnt auf Rache. Tollkühne Einbrüche weisen ihm den Weg: Die "Spinnen" sind wieder an der Arbeit! Besonders haben sie es auf einen wertvollen Brillanten abgesehen, der der Besitzerin nach einer alten Sage die Herrschaft über Asien verheißt. Die Jagd nach dem Brillanten geht durch die unterirdische Chinesenstadt von San Francisco, übers Meer bis nach den Falklandinseln. Dort gehen die "Spinnen" mit Lio Sha in einem giftigen Krater zu Grunde. Kay Hoog rettet den Stein ... Der Film ist an und für sich recht gut! Durch eine sich bis ins Detail hinein erstreckende Aehnlichkeit des Sujets mit der "Herrin der Welt" fordert der Film aber zu Vergleichen heraus, bei denen er über Gebühr den kürzeren zieht. Bei gleichzeitiger enger Anlehnung an die amerikanischen Vorbilder bringt der Film psychologisch womöglich noch weniger als jene, und die Sensationen sind nicht durchweg stark. Vielleicht war dies mit ein Grund, weshalb die Decla den Film ziemlich sang- und klanglos herausgebracht hat, mit dem übrigens die ursprünglich auf vier Werke berechnete Abenteurerklasse ihr Ende erreicht hat. In den Hauptrollen haben Ressel Orla und Carl de Vogt wieder Gelegenheit, ihre große sportliche Gewandtheit zu zeigen. Mimisch finden sie kaum irgend welche Aufgaben. Die kleineren Rollen sind gut besetzt. Von den einzelnen Aufnahmen seien besonders hervorgehoben der Wolkenkratzer aus Stahl, die Verfolgung durch die Takelage des "Sturmvogels" mit dem Sprung Kay Hoogs ins Wasser und verschiedene sehr schöne Meerbilder. Fritz Lang, dem Autor und Regisseur, fehlten bei diesem letzten Film, den er für die Decla gearbeitet hat, wohl teilweise auch die Mittel, um mit dem "Brillantenschiff" die Höhe zu erreichen, auf der seine früheren Werke durchweg standen. Trotzdem dürfte auch dieses Werk durch die geschickten Spannungseffekte, die es zu erzielen weiß, seinen Weg machen!» (H.H., Der Film, 5.Jg., Nr. 7, 14.2.1920) «(...) "The Golden Sea" employs motifs from the feuilleton literatur which had been accumulating stock characters and situations for nearly a century. (...) "The Golden Sea" adds little that is new to this tradition, other than the impressive sets (...) of the supposedly 'Incan' (stylistically Mayan) temples. Few critics, however have seemed to notice the emergence of Lang as truly innovative sensation-film-maker with the second "Spiders" film, "The Diamond Ship". (...) It is precisely fromt the exotism of both "The Golden Sea" and "Harakiri" that "The Diamond Ship" departs in order to create the first of Lang's truly modern thrillers.» (Quelle: Tom Gunning: The Films of Fritz Lang. Allegories of Vision and Modernity, London 2000, S.90)
Anmerkungen: «Der zweite Teil der SPINNEN konzentriert sich in seiner Gestaltung mehr auf Innenräume und deutet die Visionen der späteren Filme Fritz Langs, DR. MABUSE, METROPOLIS und SPIONE, bereits an: Unter dem Chinesenviertel von San Francisco, in dem die Organisation der Gegenspieler Kay Hoogs ihre Zentrale betreibt, liegt eine unterirdische Stadt, in der das Verbrechen regiert. Die Jagd nach einem diamantenen Buddha-Kopf endet auf den Falklandinseln - gefilmt in der Märkischen Heide bei Berlin. » (Stummfilmtage Berlin)

Troll-Elgen

Regie:   Walter Fyrst, NO - 1927
Produktion: Fyrst-Film - Produzent: Helge Lunde - Regisseur: Walter Fyrst - Drehbuch: Alf Rød - Kamera: Ragnar Westfelt - Darsteller: Tryggve Larssen - Bengt Djurberg - Julie Lampe - Tove Tellback - Harald Stormoen - Einar Tveito - Egil Hjorth-Jenssen - Mimi Kihle - Hauk Aabel - Nils Ahrén -
Kritiken : «Here is the film that Norwegian critics and archivists generally consider to be Norway's finest silent film. It is easy to understand their enthusiasm: not only is it a fine showcase for lovely Norwegian landscapes, but it is a slick and polished production which, on a superficial lever at least, can be compared with Swedish and Hollywood production of the period. The camerawork is smooth, the editing slick and professional. Most of it takes place out of doors, and the few interiors seem to be authentic. The locations are fresh, and there are some interesting sequences shot around Oslo's railway station. The plot-line, though very simple, has a strongly Stroheimesque air to it, not only in the characters themselves, but also in the construction and use of coincidence. Some of the editing is quite sophisticated, and indicates a possible study of earlier Griffith and Stiller works, while Stroheim himself would have been delighted with the sequence where the lecherous uncle tries to force himself on Ingrid while they are riding on a fairground merrygoround, and are being whirled through the air in a pure-white swan boat!» (Quelle: The Theodore Huff Memorial Film Society, 7.2.1972)
Anmerkungen: «Das skandinavische Kino hat in der Stummfilmzeit weltweite Achtung erfahren wegen seiner eindrucksvollen Einbeziehung der Natur in Geschichten von menschlicher Dramatik. Der Troll-Elch soll, einer alten Legende zufolge, die Inkarnation eines toten Menschen sein. Hans darf die schöne Ingrid, Tochter eines reichen Bauern, erst heiraten, wenn er den Geister-Elch getötet hat. Als Hans des Mordes an seinem Rivalen Gunnar beschuldigt wird, muß er in die Stadt fliehen und dort auf dem Jahrmarkt arbeiten.» (Stummfilmtage Bonn)

Vem Dömer

(Wer richtet?, Die Feuerprobe, Beatrix - ein Spiel von Liebe, Hass und Tod), Regie:   Victor Sjöström, Schweden - 1922
Produktion: Svensk Filmindustri (SF) - Regisseur: Victor Sjöström - Drehbuch: Hjalmar Bergman - Victor Sjöström - Nach einer Vorlage von: Hjalmar Bergman novel - Kamera: Julius Jaenzon - Architekt: Axel Esbensen - Alexander Bako - Stand Photos: Algot Lindblom - Darsteller: Albert Ståhl Man at the inn (/xx/) - Ossian Brofeldt Old Monk (/xx/) - Tyra Dörum Ursula's Maid (/xx/) - Lars Egge Lute Player (/xx/) - John Ericsson Man at the inn (/xx/) - Emil Fjellström Man (/xx/) - Nils Jacobsson Guest (/xx/) - Herman Lantz Soldier (/xx/) - Artur Rolén Man at the inn (/xx/) - Bror Berger Executioner (/xx/) - Axel Esbensen - Nils Asther Apprentice - Helga Brofeldt Woman outside church (/xx/) - Gösta Ekman Bertram - Edvin Adolphson Man at the inn (/xx/) - Nils Lundell Agitator - Torsten Bergström The Herald - Jenny Hasselqvist Ursula - Olof Ås Man at the inn (/xx/) - Waldemar Wohlström Mendicant Friar - Tora Teje - Tore Svennberg Mayor - Julia Caesar Woman outside church (/xx/) - Paul Seelig - Knut Lindroth Prior - Ivan Hedqvist Master Anton -
Kritiken : Beatrix - ein Spiel von Liebe, Haß und Tod "Beatrix - ein Spiel von Liebe, Haß und Tod". Presse- und Interessentenvorführung. Sehr, sehr süßer Rosenlikör, mit einem Schuß Angostura-Bittern, in einem goldenen, feinziselierten Kelch der Spätrenaissance kredenzt. Oder nüchterner ausgedrückt, ein sentimentales Filmdrama mit tragischem Einschlag, eine glänzende äußere Aufmachung und ein historisches, mittelalterliches Sujet. Fügen wir noch hinzu, daß die Herstellerfirma die Svenska Biograftheatern ist und Sjoström [!] als Regisseur zeichnet, dann ist der Film eigentlich schon hinreichend charakterisiert. Der Autor hat sich nicht sonderlich angestrengt, er putzte die alte Geschichte von der unverstandenen Frau, die an einen ungeliebten Mann gekettet ist, ein wenig historisch auf, läßt die Frau beinahe zur Mörderin an ihrem Manne werden, wobei das beabsichtigte Verbrechen nur dadurch vermieden wird, daß der Gatte in der Aufregung, (er hat die Vorbereitungen zum Giftmord beobachtet), einem Herzschlag erliegt. Sie wird angeklagt und muß sich von dem schweren Verdacht durch die Feuerprobe reinigen. Das Experiment führt sie glücklich zu Ende und Gott hat ihre Unschuld selbst bewiesen. - Wie gesagt, ein etwas verbrauchter Stoff, der bei einer weniger fähigen Regie vielleicht zur Katastrophe geführt hätte. Sjoström jedoch verstand es, der ganzen Sache eine besondere Note zu geben und ein ergreifendes Drama bildlich zu gestalten, das von Meisterhand geschaffene, prächtig bewegte Szenen bringt, und vor allem in den beiden letzten wirklich starken Akten auch jene Besucher mitreißen dürfte, die derartigen "zahmen Filmen" sonst vielleicht ablehnend gegenüberstehen. Das Durchschreiten des Scheiterhaufens ist eine Leistung von höchstvollendeter Technik, sowohl regietechnisch als auch photographisch. Auch einige Massenszenen sind in ihrer realistischen Bewegtheit beachtenswert. Das Experiment, einen derartigen, heute nicht allzu stark begehrten Sagenstoff zu einem zugkräftigen Film zu verarbeiten, konnte nur dadurch gelingen, daß die Svenska ihre besten darstellerischen Kräfte in den Dienst der Regie stellte, und die prächtigen Typen, verbunden mit der mimischen, ungezierten Ausdrucksfähigkeit der schwedischen Schauspieler verhelfen der sauberen Arbeit zu dem gewünschten Erfolg. Die Namen der wenigen Solodarsteller verdienen daher bekanntgegeben zu werden, in erster Linie Jenny Hesselquist, Tore Svenberg, Ivan Hedquist, Gösta Ekman, Knut Lindroth und Waldemar Wohlström. Die Eindrücke in wenige Worte zusammengefaßt: ein sauberer, logischer, historischer Spielfilm, kein Sittenfilm - aber ein sittenreiner Film. Verleih: Decla-Bioscop.» (Guido Haller, Der Kinematograph 16.Jg., Nr.804, 16.7.1922, anlässlich der Aufführung in Frankfurt a. M.) "Beatrix." Ein Spiel von Liebe, Haß und Tod. Fabrikat: Svenska-Film. Verleih: Decla-Bioscop. Regie: Victor Sjöström. [...] ([...] Tauentzienpalast.) Manchmal werden sich die Schweden untreu. Sie verlassen die erquickend reine Linie ihrer schönen Natürlichkeit, stürzen sich in Abenteuer kostümlichen Anreizes, versteigen sich in Stile, und die schon recht welken Lorbeeren der Historienfilm-Regisseure lassen sie nicht in ihrer harmonischen Ruhe. In Zeiten solcher Anfälle von Modelaune muß "Beatrix" entstanden sein. Ein Spiel von Liebe, Haß und Tod, von Gedankensünde, von Jugendrecht und Altersgrausamkeit, ein Spiel von Scheiterhauen und Gottesurteil. Ganz im Ton alter Chroniken vorgetragen, vom Atem der Legende überflügelt. Sehr fein, abseits vom Gewöhnlichen, nur: von der ersten bis zur letzten Szene eine einzige große Konzession an billigeren Publikumsgeschmack. Durchaus kein Schwedenfilm, nur ein Qualitätsfilm. Und das ist bei einer Produktion, die so sehr mit äußersten künstlerischen Reizen zu verwöhnen verstand, zu wenig. Sjöström hält auch in diesem ihm ungewohnten Rahmen an der Ueberlieferung der Sauberkeit fest, bindet schön Spiel und Gedanke, denkt bildhaft. Aber all dies geschieht bewußt und nicht mehr mit der elementaren Kraft von sonst. Jenny Hasselquist ist Beatrix, die schuldlos Schuldige. Ihr Ausdruck ist voll des Adels innersten Erlebens, das Spiel der Hände lebendig und echt, die ganze Persönlichkeit ganz Musik der Bewegung. Bestes geben wieder die männlichen Partner Ivan Hedquist und Tore Svennberg. Die Photographie in delikatem Reiz.» (Max Prels, Der Kinematograph 16.Jg., Nr.822, 19.11.1922) Beatrix «Die Epidemie der historischen oder der Kostümfilme hinterläßt überall ihre Spuren: Auch die Schweden, verführt durch einen alten Legendenstoff, haben nun ihren eigenen Boden verlassen. Zwar ist dieser Film (U.T., Tauentzienpalast) Victor Sjöströms noch immer der schwedischen Tradition treu geblieben, also makellos in der Regie, streng und sauber in der Idee und im dramatischen Bau des Manuskriptes, aber es [!] hat das Unmittelbare der Wirkung eingebüßt, das Selbstverständliche, Natürliche, den großen Vorzug der skandinavischen Darsteller. Trotzdem Sjöström gerade dem Ausspielen der menschlichen, außerhalb jeder Zeit stehenden Konflikte viel Raum und Sorgfalt widmet, bleibt ihm die gewünschte Wirkung versagt. Die Schauspieler sind durch das fremde Gepräge, das zu einem gewissen Pathos zu verpflichten scheint, irritiert; die großen dramatischen Augenblicke treten deshalb nur unmerklich aus dem dickflüssigen, schwerblütigen Tempo dieser Legende von Liebe, Haß und Tod. Mittelalter, die Zeit der Gottesurteile. Beatrice haßt ihren ungeliebten, um vieles älteren Gatten und betet alltäglich zu Gott um Befreiung; auch um Vergebung für ihren Haß, denn sie ist fromm. Als ihre Liebe zu einem schönen Jüngling entdeckt wird, tritt zum ersten Mal der Gedanke an den Tod in ihr Leben. Angstvoll kommt ihr Gatte zu ihr. Das Gift, das sie für sich bestimmt hat, mischt sie ihm in den Becher. Er sieht es und stirbt vor Erregung am Schlagfluß. Nur die Aussage eines Bettelmönches, der Beatrix ein unschädliches Pulver statt des vermeintlichen Giftes gegeben hat, macht sie von der Anklage frei. Aber der Verdacht bleibt, selbst der Geliebte zweifelt und das empörte Volk verlangt nach einem Gottesurteil. Der Geliebte will sich für sie opfern; im letzten Augenblick kommt sie selbst, von Gewissensqualen übermannt, denn sie glaubt, daß ihr Haß, ihr Wille zum Mord den Tod des Gatten verschuldet hätten und besteigt selbst den Scheiterhaufen. Und Gott entscheidet für sie, den sie ist rein... Jenny Hasselquist spielt die Beatrix; ihre Partner sind Ivan Hestquist und Tore Svennberg; schöne, natürliche Menschen voll Eifer und Begabung.» (p.m., Film-Echo, Beilage zur Sonderausgabe des "Berliner Lokal-Anzeigers", Nr.42, 13.11.1922) "Beatrix" Dieser erinnerungswürdige Abend wurde mit einem Bergsteigerfilm (Decla-Bioscop), "Auf den Höhen des Schweigens", eingeleitet, der in geschickt geschnittenen Bildern die Bezwingung einiger Berggipfel und -wände zu Gesicht bringt. Der Film ist nur ein wenig lang, könnte Schnitte (im Aufrollen des Seiles, das sich wohl zwanzigmal wiederholt) vertragen, um dann von noch stärkerer Wirkung zu sein. Die Virage der Kopie war recht ungleich; es wäre am besten, sie durchgehend elfenbeinfarben zu viragieren. Es folgte dann der Schwedenfilm "Beatrix", ein Spiel von Liebe, Haß und Tod in fünf Akten, die, von Hjalmar Bergmann geschrieben, von Victor Sjöström inszeniert wurden. Man geht neuerdings mit einiger Skepsis zu den Schweden; denn nachdem man sie anfänglich übertrieben feierte, kam man bald hinter die Grenzen ihrer Kunst, die Dramatisches zugunsten zu starker "Seelenspiegelung" unterdrücken. Schwedenfilme sind langweilig, wurde nicht selten geurteilt, was der Qualität nicht ganz gerecht wurde. Aber irgendwo geschieht bei Stiller oder Sjöström ja doch das Wunder, daß wir vor ihren Leistungen verstummen und in ehrfürchtigem Staunen zu ihnen aufblicken. Dieses Wunder geschieht in Beatrix im letzten Akt, der sich von den vorhergehenden an dramatischer Schlagkraft so abhebt, als sei er von einer ganz anderen Hand geschrieben worden. Die Geschichte ist bis dahin ziemlich einfach und alltäglich und wird auch nicht interessanter dadurch, daß man ihr das Gewand der späten Gotik anzieht. Beatrix wird einem ungeliebten Gatten angeheiratet und verliebt sich in der Ehe in einen schönen jungen Mann. Den Gatten versucht sie zu vergiften, aber den trifft, da er ihre Vorbereitungen gesehen, zuvor der Schlag. Das vermeintliche Gift war ein harmloses Pulver - die Obrigkeit spricht Beatrix frei, aber das Volk verlangt ein Gottesurteil. Der Geliebte will für sie den Scheiterhaufen besteigen, aber Beatrix, von Reue getrieben, stürzt sich in die Flammen, geht aber aus ihnen, da sie bereut, heil hervor. Dieses Melodram hat die unwirkliche Atmosphäre der Legende, ganz besonders im letzten, in einer Nacht sich abwickelnden Akt, in dem Sjöström die Handlungsarmut der ersten Akte durch einprägsam einfache Bilder wettmacht. Seine Art, die Handlung aufzulösen, sie wechselnd in den verschiedenen Figuren zu spiegeln, ist bekannt. Die Massenszenen sind von Lubitsch beeinflußt, zwei Bilder glatt aus dem "Weib des Pharao" übernommen. Der Höhepunkt de Sjöströmschen Regiekunst wird beim Bau des Scheiterhaufens erreicht, in der Schar der fanatischen, mit Reisig beladenen Weiber. In den letzten Szenen hätte man die Figur des Gatten, der Beatrix schützend durch die Flammen des Scheiterhaufens führt, nur schemenhaft einkopieren sollen - auch sollte man Visionen stets im Dämmerlicht durch Schleier photographieren - auch nur inmitten von Kreisblenden, um sie unwirklicher zu machen. Jenny Hasselquist bewies als Beatrix von neuem ihr eminent schauspielerisches Können - nur dem Schluß blieb sie die Verzückung schuldig - aber vielleicht ist dieses Gefühl nicht mehr darzustellen. Tore Svenneberg und Ivan Hedquist hatten am Erfolg ebenso großen Anteil wie die Photographie Julius'.Der Film fand eine außerordentlich beifällige Aufnahme. Svenskafilm der Ufa.» (N., in Film-Kurier, 4.Jg., Nr.252, 13.11.1922) «Dramaturgie eines Schwedenfilms - Gedanken über Sjöströms "Beatrix" Ein in sich starker, überzeugender Film muß eine Voraussetzung erfüllen: er muß die Logik des Alltages haben. Sobald ein Film sich auf eine exzeptionelle Verquickung stützt, nähert er sich vielleicht dann und wann dem Leben - aber nur die Wirklichkeit darf sich die Konstituierung von Unwahrscheinlichkeiten erlauben; dem Dichter nimmt man sie übel, und das Publikum bezweifelt sie. Das ist die grundlegende Schwäche des Sjöströmschen Filmes "Beatrix". Eine Frau, deren Schuld in der Andeutung einer Verfehlung, in der Eröffnung der Perspektive auf einen Ehebruch besteht - wohlgemerkt: der Ehebruch kommt nicht zustande! -, eine solche Frau mischt ihrem Manne, den sie haßt, Gift in den Wein. Und sie tut es, indem sie nicht sieht, daß dieser Mann dicht vor dem Spiegel steht und sie beobachtet. Zudem verdeckt sie den verbrecherischen Vorgang nicht etwa mit ihrem Körper, sondern stellt sich offen vor den Spiegel hin. Diese Prämisse ist falsch. Das Leben mag die Unwahrscheinlichkeit zulassen, es gibt Verwirrungen des Geistes (bei der Frau), mit denen man die Unsinnigkeit rechtfertigen könnte, - und Bewegungshemmungen (beim beobachtenden Mann), die ihn, den offenbar Herzkranken, hindern können, der Frau entgegenzutreten; aber der Film darf mit diesen exzeptionellen Denkbarkeiten nicht rechnen: er muß das alltägliche Vorkommnis im Auge behalten, denn nur dieses läßt sich typisieren. Vollends indiskutabel ist die Voraussetzung, daß der Mönch, der feilschend von Haus zu Haus zieht, Gift mit sich führt. Hier fühlt man eine Absicht, die aber nicht klar zum Ausdruck kommt: soll der Tod eine Symbolisierung erfahren, das Verderben gleichfalls menschliche Form annehmen in dem Augenblick, in dem auch die Liebe Mensch wird? Das scheint das Ziel gewesen zu sein, aber es wurde in keiner Weise erreicht. Nicht der Tod erscheint, sondern ein körperlicher Faktor, der dem Schicksal in die Speichen fällt. Zwar dokumentiert die Art, in der der Mönch eingeführt wird, ein klares Bestreben: die Auswechselung des Giftes im Ring der Frau gegen eine ungefährliche Substanz erfolgt vor den Augen des Publikums, so daß über die Harmlosigkeit der späteren Vergiftungsszene keine Zweifel bestehen können, der Zuschauer also ohne jede Spannung in der Handlung weiter vorgeschritten ist, als die handelnden Personen selber, - aber dieses Bestreben, die Kolportage zu vermeiden, ist, so stilvoll sie für den Intellektuellen schon sein mag, ein Verzicht auf das stärkste filmische Element der Handlung überhaupt. Zwei Punkte sind es somit, die bereits im Vorwurf der Fabel der Spannung zuwiderlaufen und den Film dramaturgisch matt machen. Aber darüber hinaus wirken große Schwächen nach: Beatrix, die Frau, haßt ihren Mann, ... warum? Liebe braucht nicht motiviert zu werden, sie ist da, im Äußerlichen der Menschen begründet, denn Liebe strömt von Geschlecht zu Geschlecht. Aber der Haß gegen einen Menschen, der äußerlich angenehm und in seinem Charakter augenscheinlich edel ist, muß begründet werden, auch wenn dieser Mensch ... Ehemann ist. Weiterhin: die geistreiche Komposition, durch die die Frau die Vorgänge der Sterbeszene ihres Mannes sich nachträglich vergegenwärtigt, erweist sich als wirkungslos, weil wir zu sehr Augenzeugen der Spiegelszene wurden. Wir haben - im Film - zu oft Beobachtungen durch den Spiegel erlebt, als daß wir die Ahnungslosigkeit der Frau hinnehmen könnten. Schließlich aber findet der Film Sjöström[s] einen konstruktiven Höhepunkt, der in seiner fast legendären Färbung erst recht nicht geeignet erscheint, die wenig überzeugenden Voraussetzungen zu überstrahlen. Das Gottesgericht, nachdem die Frau ihre Mitschuld erkannt hat, ist ein unendliches Legato der Geste, das keine natürliche Kulmination kennt. Der Sohn des Bürgermeisters tritt sein Opferplatz an die Urheberin des Unheils, an Beatrix, ab ... ohne fühlbare Erregung darüber, daß hier ein Schuldbekenntnis zum Durchbruch zu kommen scheint. Die Symbole des Entwurfes: Tod und Liebe - sie verschwinden, dafür löst sich vom Kreuz die Figur des gestorbenen Gatten los ... Ist das wieder ein Symbol: das Kreuz des ehelichen Hasses? Oder will Sjöström das Visionäre des Schuldbewußtseins zum Leitgedanken des Gottesurteils machen? Auch diese Klimax fängt den Zuschauer nicht mehr ein, weil dieser zumeist eine Abneigung gegen die Exaltiertheit der religiösen Ideen, sicherlich aber eine besondere Empfindlichkeit gegenüber der Verweltlichung konfessioneller Symbole haben wird. Die Dramaturgie der "Beatrix" verpufft damit selbst an den Höhepunkten: das Nicht-Alltägliche verschließt sich, weil die Prämissen versagen, auch in seinen Folgen ganz der gedanklichen Zugänglichkeit. Für die Beurteiler dieser Arbeit ist aber eines lehrreich: sehen wir von "Erotikon" ab, so hieß bisher die beste schwedische Filmautorin Selma Lagerlöf, und das aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht symbolisierte, nicht ideelle Konzeptionen gab, sondern nur typisierte, also dem Alltag das Selbstverständliche entlieh. Der Umstand, daß selbst Stimmungsmaler, Menschenzeichner und Durchgeistiger von Situationen, wie es die beiden schwedischen Regisseure Sjöström und Stiller sind, an der Unzulänglichkeit neuer Vorstellungen scheitern, ist angesichts der "Beatrix" von lehrreichem Interesse. Zwar soll und kann nicht jede Erzeugung ein Meisterwerk sein, wohl aber kann der Vorwurf, die dramaturgische Unterlage, in jedem Fall die klare Film-Erkenntnis verraten. Davon kann man hier nicht sprechen. Die Technik des Bildes - Ton und Gebärde -, Tempo und Mitteilsamkeit ... alles das scheint am Film Handwerk zu werden (oder zu sein); doch das Manuskript gelingt einem Handwerker nicht. Auch Sjöström wird das einsehen müssen.» (Paul Ickes, Quelle: Film-Kurier, 4.Jg., Nr.252, 13.11.1922)

La vie et passin de Jésus Christ

Regie:   Georges Hatot, Frankreich - 1898
Produktion: Société Lumière - Regisseur: Louis Lumière - Georges Hatot - Kamera: Alexandre Promio - Darsteller: Bretteau -
Kritiken : "Das Leben und die Passion Jesu Christi" verdankt seine Existenz zweifelsohne kommerziellen Interessen. Und das bedeutete schon damals, daß man sich dem Geschmack möglichst breiter Bevölkerungsschichten anpassen mußte (...): vier der dreizehn Szenen warten mit Wundern unterschiedlicher Valenz auf. Nur zwei von ihnen (Lazarus, Auferstehung) sind biblisch überliefert. (...) Die mittels Stop-Trick realisierte Abendmahls-Erscheinung ist wohl das älteste 'Filmtrick-Wunder' der Kinogeschichte (...). Mehr als diese Wunder-Eskapaden irritieren an der Lumière-Passion aber eine Reihe anderer Freiheiten im Umgang mit den Evangelien (...). In der filmischen Konkretisierung fehlen (...) ganz zentrale Handlungsträger der neutestamentlichen Evangelienüberlieferung. (...) so verbindet sich bereits bei den Filmpionieren Lumière eine Ästhetik im engen Anschluß an etablierte Formen der konservativen religiösen Populärkultur mit beachtlichen inhaltlichen Extravaganzen.» (Quelle: Reinhold Zwick: "Das Leben und die Passion Jesu Christi" nach den Gebrüdern Lumière. Zur Geburt des Erzählkinos aus der religiösen Populärkultur des 19. Jahrhunderts", in: Das Münster 4/1995, S.306-307)
Anmerkungen: «Ein früher, für seine Zeit ungewöhnlich langer und aufwendig gestalteter Jesus-Film aus der Produktion der Gebrüder Lumière. In 13 Tableaus, die von der Geburt Jesu bis zu seiner Auferstehung reichen, agieren die Schauspieler vor gemalten Kulissen, deren Begrenzungen im Bild deutlich zu sehen sind. Ursprünglich wurden die jeweils nur eine Minute langen Bilder als Einzelfilme vorgeführt, so daß der Film, der Auftakt unzähliger Jesus-Filme, auch als Vorform der späteren Form des Serials gesehen werden kann.» (Stummfilmtage Bonn)

Von morgens bis mitternachts

Regie:   Karl Heinz Martin, Deutschland - 1920
Produktion: Ilag-Film (Isenthal und Juttke), Berlin - Regisseur: Karl Heinz Martin - Drehbuch: Herbert Juttke - Karl Heinz Martin - Nach einer Vorlage von: Georg Kaiser Drama - Kamera: Carl Hoffmann - Architekt: Robert Neppach - Kostümbild: Robert Neppach - Darsteller: Eberhard Wrede Bankdirektor - Roma Bahn Die Fremde: Tochter, Bettelmädchen, Kokotte, Maske, Heilsarmeemädchen - Elsa Wagner - Hans Heinrich von Twardowski Der junge Mann - Lotte Stein - Frida Richard Grossmutter - Erna Morena Die Frau des Kassiers - Adolf Edgar Licho Fetter Herr - Lo Heym - Hugo Döblin Trödler - Ernst Deutsch Der Kassier -
Inhaltsangabe : Eine Dame betritt eine Bank, um Geld abzuheben für den Kauf eines Gemäldes von einem Trödler. Doch der Bankdirektor verweigert ihr die Auszahlung. Eine flüchtige Berührung veranlasst den Kassierer, der von ihm angehimmelten Dame helfen zu wollen: Angereizt von der Vorstellung eines mondänen Lebens mit ihr, veruntreut der Bankangestellte eine Summe von 60.000 Mark und stiehlt sich mit dem Geld davon. Daraufhin sucht er die Dame im Hotel auf, um gemeinsam mit ihr ins Ausland zu fliehen. Diese lehnt sein Angebot jedoch unter Gelächter ab, zumal sie sich das Gemälde auch selbst leisten kann.

Am Boden zerstört macht sich der Kassierer auf den Weg nach Hause, wo ihn seine trübselige Familie und ein tristes Leben erwarten. Inzwischen wurde der Diebstahl in der Bank entdeckt. Sich der Gefahr bewusst, flieht der Kassierer auf die "Straße", durch den nächtlichen Schneesturm, in die nächstgelegene Stadt und entkommt damit der Polizei und dem Bankdirektor, die ihn auch zu Hause aufsuchen.

Beim Stadtbummel deckt sich der flüchtige Kassierer mit neuer, eleganter Kleidung ein, bevor er beim Sechstage(rad-)rennen im Sportpalast den wohlhabenden Lebemann spielt. Wieder unterwegs landet er in einem Tanzlokal und anschließend mit einer Kokotte und Champagner im Séparée. Von einem Seemann wird er außerdem in eine Kneipe geschleppt, wo ihn auch beim Kartenspiel seine Glückssträhne nicht verlässt.

Mittlerweile hat die Polizei die Fahndung ausgeschrieben. Eine Kapelle der Heilsarmee zieht durch die Stadt und lässt sich dort nieder. Gleichzeitig werden in dem kriminellen Kassierer melancholische Erinnerungen an seine Familie sowie Ängste vor dem Gefängnis wach, was den Reumütigen schließlich dazu veranlasst, einem Heilsarmeemädchen seine Geschichte zu beichten.

Daraufhin verteilt er das restliche Geld unter den Armen, die sich gierig auf die üppige Beute stürzen. Doch seine Bußemaßnahmen können den Banditen nicht retten: Kurz vor Mitternacht schwärzt ihn das Mädchen von der Heilsarmee bei einem Polizisten an. Die Festnahme des Kassierers steht bevor, doch dieser präferiert erneut die Flucht, diesmal aber die ins Jenseits ... (arte Presse)
Kritiken : Vereinigung Münchener Filmkritiker

«[...] Als zweite Sondervorstellung für die Vereinigung sah man im Vorführungsprogramm der Regina-Lichtspiele den in Süddeutschland noch unbekannten Ilag-Film nach Kaisers "Von Morgen bis Mitternacht". Damit nähert sich der Expressionismus den wesenhaften Möglichkeiten des Films schon viel mehr als im "Caligari": dingliche und schauspielerische Darstellung gehen einheitlich zusammen, wobei freilich immer noch diesem Zusammengehen von aussen her malerisch (mit aufgesetztem Weiss) nachgeholfen wird. Jedenfalls aber erscheint der photographische Naturalismus in diesem Regiewerk K.H. Martins glücklich überwunden und damit in der Entwicklung des Films aus seiner Reproduktionstechnik zu künstlerischer Formung ein weiterer Schritt getan. Welche Münchener Lichtspielleitung wird sich das Verdienst sichern, mit der öffentlichen Vorführung bahnbrechend voranzugehen? » (Quelle: Film-Kurier 4.Jg., Nr.31, 4.2.1922)

Von Morgens bis Mitternachts

«(...) Das Manuskript, von Martin selbst und Herbert Juttke bearbeitet, wurde streng auf dem Grundriss des Dramas errichtet. Nur die Frauengestalten waren in eine einzige Figur vereinheitlicht. Martin wollte vom Individuellen weg - ein Zeitlos-Ewiges war der Blickpunkt. "Ein Kassierer", "ein Mädchen", "eine Mutter" erscheint - keine private Gestalten.

(...) Martin hat die Intensität des Vorgangs stark herausgearbeitet. Die Gestalten sind auf wenige, stark betonte Züge inszeniert. Der Rhythmus ihrer Existenz in die Gebärde verlegt. Die Darstellung ist aus der Dynamik der Handlung heraus konstruktiv gestaltet. Dadurch wird die Szene seelenlos. Der Architekt Neppach hat schwarz-weiss gearbeitet, Figurinen, Landschaften, Inneneinrichtung - alles ist auf lineare Grapikwirkung gestellt, auf die Bewegungswirkung von Flächen und Linien, Hell und Dunkel. Der Weg in die Nacht, im Winterbaum: eine weisse Schlange in dunkle Flächen gepresst: und davor ein Baum, massig, Spiel gereckter Äste. Der Operateur Hoffmann hat die Photographie auf die Absicht des Malers eingestellt: es kommt alles Grau in Grau heraus. Die Figuren haben ihre organische Form abgestreift, sind Teile, Formelemente des dekorativen Gedankens, gestalten den Bildraum mit, werden durch Lichtflecke und Streifen zerrissen, die ihnen aufgemalt sind. (...) Der Film ist nicht zur Aufführung gekommen. In Japan soll er Erfolg gehabt haben.» (Quelle: Rudolf Kurtz: Expressionismus und Film, Berlin 1926 (ND Zürich 2007), S.66-70.)
Anmerkungen: «Als attraktive Dame betritt Erna Morena eine Bank, um einen grossen Betrag abzuheben, der ihr allerdings vom Bankdirektor, der sie für eine Hochstaplerin hält, verweigert wird. Der Kassierer ist fasziniert von ihr, denn sie verkörpert für ihn Luxus, freie Lebensgestaltung und Lustversprechen. Er setzt sein kleinbürgerliches Leben aufs Spiel. Erna Morena wird hier als Stereotyp der grossbürgerlichen Dame eingesetzt: ihre für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Körpergrösse, ihre grazile Fragilität und das für sie typische Spiel mit ihren schmalen langen Händen kam dem expressionistischen Stilwillen des Regisseurs entgegen. »Der Regisseur wollte vom Individuellen weg – ein Zeitlos-Ewiges war der Blickpunkt … Die Figuren haben ihre organische Form abgestreift, sind Teile, Formelemente des dekorativen Gedankens, gestalten den Bildraum mit, werden durch Lichtflecke und Streifen zerrissen, die ihnen aufgemalt sind.« (Rudolf Kurtz) (Filmmuseum München)

«Einer der wenigen reinen expressionistischen Filme, mit verzerrten Kulissen, harten Kontrasten und stilisiertem Spiel der Darsteller. Erzählt wird die Geschichte vom Kassierer einer Bank, der Geld stiehlt, um sich in die Vergnügungen der Grossstadt zu stürzen. Der Film kam seinerzeit nicht in die deutschen Kinos, sondern erlebte seine Uraufführung in Japan, wo sich die einzige Kopie erhalten hat. Die in der originalen Grafik rekonstruierten Zwischentitel wurden vom Filmmuseum München in den Film eingefügt.» (Stummfilmtage Bonn)

«Als das Paradigma des expressionistischen Films gilt scheinbar ohne Zweifel und Konkurrenz "Das Cabinet des Dr. Caligari". Doch zum Bild der Epoche gehören ebenso die Widersprüche und Brüche, die vergessenen, von der Kritik abgelehnten oder kommerziell erfolglosen Filme: "Von morgens bis mitternachts" war ein solcher Film - kein Produkt der Großfilmbranche, sondern ein Low-Budget-Projekt, initiiert von dem Theatermacher Karlheinz Martin. Dieser hatte das gleichnamige expressionistische Bühnenstück von Georg Kaiser über die Verlockungen der Straße und Stadt aus dem Jahre 1912 bereits auf der Bühne inszeniert. Zusammen mit Freund Herbert Juttke, dem Teilhaber einer kleinen Produktionsfirma, schrieb Martin das Drehbuch. Gedreht wurde in den Theaterpausen mit einem Team, das die Inszenierungsideen des Regisseurs mittrug und sich vor allem zu seinen kunstrevolutionären Parolen bekannte - von der Kunst als Imperativ der Freiheit und dem Gestaltungsrecht des Künstlers. Die Filmcrew samt Darsteller arbeiteten zur Entstehungszeit des Films mit Martin zusammen oder kannten ihn von früheren Kooperationen her. Auch Freunde wirkten als Laiendarsteller mit, zum Beispiel der Dichter Max Herrmann und dessen Frau Leni.

In "Von morgens bis mitternachts" sollte eine deformierte Welt deformiert gezeigt werden. Jedoch wirkte der Film zu Beginn der 20er Jahre so schrill, fremd und unkonventionell, dass selbst das schockgewohnte Berliner Metropolenpublikum sich ihm verweigerte und er erst recht nicht die oberschlesische Provinz erreichte. Weil der Regisseur die bildlichen Elemente des "Caligari" sowie den Expressionismus selbst bis an ihre logische Vollendung trieb und so weit über Zeit und Stil hinausging, fand "Von morgens bis mitternachts" kaum Publikum, außer in Japan, dem Land des Holzschnittkünstlers Hiroshige und des No-Theaters.

Martin bezog die Mittel seiner Inszenierung nicht nur aus der Interpretation des Theaterstücks oder aus dem Widerspruch gegen das bürgerliche Repertoiretheater und der Erprobung neuer Spielstätten. Der Film kann auch als Auseinandersetzung mit den zeit- und materialbedingten Beschränkungen des Mediums verstanden werden. "Von morgens bis mitternachts" ist unräumlich, unfarbig und stumm; doch gerade diese Mängel sollten nicht verborgen oder gar künstlich kaschiert, sondern sichtbar gemacht werden. Angekündigt als "der erste Film, der in den Urfarben Schwarz und Weiß abrollt", wurde das Bewegungsbild in die reine Antithese Schwarz-Weiß eingezwängt - wohl im Hinblick auf die generelle Unfarbigkeit des damaligen Films, die hier in letzter Konsequenz durchgespult und -gespielt werden sollte. "Von morgens bis mitternachts" ist der Versuch des experimentierfreudigen Martin, einen sprachlich so eigenwillig präformierten Text optisch neu zu organisieren. Entstanden ist ein Film, dessen Stärke in seiner einzigartigen Bildhaftigkeit liegt: Es wurden Bilder geschaffen, die das Wort fast gänzlich zu verdrängen vermochten und sich durch ihre schlagwortartige Gestaltung einprägen mussten.
"Von morgens bis mitternachts" war zu seiner Zeit offenbar nur in Privat- und Sonderaufführungen gezeigt worden. Lange Zeit danach galt der Film als verschollen, bis 1962 eine Kopie in Japan auftauchte. Ein Jahr später wurde der Film dann erstmals öffentlich in Ostberlin aufgeführt. Das Filmmuseum München nahm sich der Rekonstruktion des expressionistischen Stummfilms an.x (ARTE Presse)

Yogoto no yume

(Träume jede Nacht), Regie:   Mikio Naruse, Japan - 1933
Produktion: Shochiku - Regisseur: Mikio Naruse - Drehbuch: Mikio Naruse - Tadao Ikeda - Kamera: Suketaro Ikai - Darsteller: Sumiko Kurishima - Teruko Kojima - Tatsuo Saito - Atsushi Arai - Mitsuko Yoshikawa - Takeshi Sakamoto - Kenji Oyama - Shigeru Ogura - Choko Lida - Ranko Sawa -
Kritiken : «(...) Ein Rollbild unterschiedlicher Emotionen präsentiert Kleinigkeiten des Alltags, die heiteren und finsteren Gefühle der sich täglich durch das Leben kämpfenden, armen Menschen, sowie solche Ereignisse, die sich in den Zeitungen auf der Seite für vermischte Meldungen finden. (...) Bewundernswert ist, daß die einzelnen Einstellungen exakt so gestaltet sind, wie sie es sein müssen. Alle Einstellungen sind eins mit dem Leib des Regisseurs. Seine Bemühungen sind in diesem Film endlich in sein Fleisch und Blut übergegangen, so daß der Film beginnt, ein eigenes, vitales Leben zu führen. (...) Winzige Nuancen des Alltags erhellen oder verdunkeln das Gemüt. Es gibt nicht viele Filme, die den Gemütszustand anhand der Lichtverhältnisse so gegenständlich und lebendig darstellen. Auch sind die vermeintlichen Witze in diesem Film so natürlich der Atmosphäre der Szenen angepaßt, daß sie kaum als solche auffallen. (...) YOGOTO NO YUME ist ein Meisterwerk des heutigen japanischen Films, das bereits in die Regionen Yasujirõ Ozus vorzudringen scheint.» (Quelle: Kitagawa Fuyuhik in: Kinema Junpõ (Tõkyõ), Nr. 475, 1.7.1933, übers. v. Kayo Adachi-Rabe, in: City Girls. Frauenbilder im Stummfilm. 41 Filme, Berlin 2007, S.80). «(...) Omitsu supports herself and her son by working as a bar hostess. One day, her husband Mizuhara comes home in an extremely shabby condition. Omitsu is furious and verbally attacks Mizuhara, but she nevertheless decides to remain living with him as a family for the sake of their son. Mizuhara looks for a job so Omitsu can quit her morally questionable job, but is unable to find any work. Then their son gets injured in a car accident. Desperate to get the money for their son's treatment, Mizuhara commits burglary, runs away, and finally ends up killing himself. Although the opening sequence showing Omitsu coming out of jail after being arrested for prostitution was cut by the censors, it is clear that Naruse's heroine has descended even lower than the geisha in his previous film, "Kimi to wakarete" ("Farewell to You"). (...) This film ranked Number 3 in the annual Top 10 film list for 1933, while another Naruse film, "Kimi to wakarete" ("Farewell to You"), occupied fourth place, establishing Naruse as one of the most promising young directors in Japan, together with Sadao Yamanaka at Nikkatsu.» (Fumiko Tsuneishi, Quelle: http://www.cinetecadelfriuli.org/gcm/ed_precedenti/edizione2005/edizione2005_frameset.html)
Anmerkungen: «Eine starke Frau steht im Mittelpunkt des Films, der als der stilistisch geschlossenste Stummfilm Mikio Naruses gilt: Omitsu arbeitet als Hostess in einer Bar, um sich und ihren Sohn über Wasser zu halten. Als eines Tages ihr arbeitsloser Mann Mizuhara wieder auftaucht, akzeptiert sie ihn nur widerwillig. Naruse erzählt seine Geschichte rein visuell. Die ursprüngliche Anfangssequenz, in der Omitsu aus dem Gefängnis entlassen wird, wo sie wegen Prostitution einsaß, wurde von der Zensur geschnitten. » (Stummfilmtage Bonn)