Anders als die Andern


Szenenfoto aus dem Film 'Anders als die Andern' © Oswald-Film GmbH, Berlin, Szenenfoto aus dem Film 'Anders als die Andern' Szenenfoto aus dem Film 'Anders als die Andern'


Produktion: Richard Oswald-Film GmbH, Berlin Deutschland, 1919

Regisseur: Richard Oswald
Produzent: Richard Oswald
Drehbuch: Richard Oswald, Magnus Hirschfeld [Wissenschaftl. Beirat]
Kamera: Max Fassbender
Architekt: Emil Linke
Darsteller: Conrad Veidt [Paul Körner, Violinvirtuose], Leo Connard [Körners Vater], Ilsa von Tasso-Lind [Körners Schwester], Ilsa von Tasso-Lind [Körners Mutter], Ernst Pittschau [Körners Schwager], Fritz Schulz [Kurt Sievers], Wilhelm Diegelmann [Kurts Vater], Clementine Plessner [Kurts Mutter], Anita Berber [Else, Kurts Schwester], Reinhold Schünzel [Franz Bollek], Helga Molander [Frau Hellborn], Magnus Hirschfeld [Ein Arzt], Karl Giese [Paul Körner als Kind]
Kategorie: Langspiel Film
Technische Info: Format: 35 mm, 1:1,33 - Ratio: 1:1,33 - Schwarz-Weiss Film,, 2280 Meter, 6 Akte
Tonsystem: silent
Premiere: 28. Mai 1919 in Berlin, Apollo-Theater
Vorhandene Kopien: Unvollständige Kopien des Films existieren [Archiv: UCLA Film And Television Archive (Los Angeles)]


Deutscher Titel: § 175
Deutscher Titel: Sozialhygienisches Filmwerk II
Englischer Titel: Different from the Others
Russischer Titel: Не такой, как все

Inhaltsangabe
Zentrales Thema des Films ist die Debatte um § 175 StGB, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellt. Anders als die Andern beschreibt den "tragischen Lebenslauf eines homosexuellen Opfers eines Erpressers, wie er nur im Konflikt mit dem Strafgesetzbuch möglich war" (ZT). Bereits als Jugendlicher gerät Paul Körner (Conrad Veidt) in Schwierigkeiten, da er sich zu seinem besten Freund hingezogen fühlt. Als dies entdeckt wird, muss er das Internat verlassen und beginnt ein zurückgezogenes Leben als Violinvirtuose. Als er seinen junger Bewunderer Kurt Sivers (Fritz Schulz) als Lieblingsschüler und Geliebten aufnimmt, scheinen Einsamkeit und Isolation überwunden. Doch bald wird Paul vom zwielichtigen Franz Bollek (Reinhold Schünzel) wegen seiner Homosexualität erpresst, nachdem er diesem Geld für eine Liebesnacht geboten hatte. Verzweifelt sieht er vor seinem geistigen Auge den Zug seiner "unglücklichen Schicksalsgenossen" aus vergangenen Zeiten vorüberziehen. Er konsultiert einen Sexualforscher (Magnus Hirschfeld), der ihn aufklärt, dass Homosexualität eine "reine und edle" Veranlagung darstellen könne, die darüberhinaus naturgegeben sei.
Als Körner seinen Erpreser schliesslich anzeigt, wird er selbst zu einer Haftstrafe verurteilt. Von nun an ist er gesellschaftlich geächtet, sein Liebhaber hat ihn nach Bolleks Demütigungen verlassen. Ruiniert und vereinsamt nimmt sich Paul das Leben. Der Film endet mit einem Appell Hirschfelds, in dem er sein Publikum bittet zu helfen, solche Tragödien in Zukunft unmöglich zu machen. Die letzte Einstellung zeigt den jungen Kurt Sivers, dessen Hand den § 175 aus dem Gesetzbuch wischt (nicht erhaltene Szene).

Der Geigenvirtuose Paul Körner fördert das musikalische Talent des jungen Kurt Sivers, dessen Eltern das schwärmerische Verhältnis der beiden mit Misstrauen beobachten. Körner wird wegen seiner Homosexualität vom Ganoven Bollek erpresst. Schließlich zeigt Körner den Erpresser an, der sich mit einer Anzeige wegen § 175 revanchiert.
In einer Rückblende berichtet Körner Else, Sivers' verständnisvoller Schwester, seine Entwicklung und besucht mit ihr einen Vortrag von Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld über die wissenschaftlichen Hintergründe der Homosexualität. Das Gericht schickt den Erpresser ins Zuchthaus, muss aber auch Körner wegen der Rechtslage zu einer Woche Gefängnis verurteilen. Von allen geächtet, begeht Körner Selbstmord. (www.filmportal.de

Kritiken : Anders als die andern

«Die Aufführung vor "geladenem Publikum" war etwas wie eine Sensation. Aus zwei Gründen: erstens des Themas wegen und zweitens – des Publikums wegen. Es ist heikel, über das alles zu schreiben, hat man bisher gesagt. (Vielleicht findet nur ein "anderer" die richtigen Töne.) Wenn man das aber sah, sagte man sich: es ist nicht heikel. Es war eine Ovation. Es wurde zur grossen Versammlung der "anderen". Die merkwürdig vielen Frauen, die vermutlich Pikanterien witterten, wurden enttäuscht. In der Minderzahl, wurde man belehrt, dass man das alles nicht einmal amüsant finden dürfe, geschweige denn unnatürlich oder gar verdammenswert. So war die ganze Stimmung also eine höchst – ja, ich weiss nicht, wie ich sagen soll.

Was will der Film? Aufklären – Klarheit bringen, verkündete Dr. Magnus Hirschfeld in den einleitenden Worten, die bestimmt und klar ausgingen und denen Beifall folgte. (Beifall war hier spontan.)

Über die Frage, überhaupt ein solches Thema als Film zu wählen, ist entschieden; man hat es gewählt. Man will also Verständnis erwecken und den weitesten, allerweitesten Kreisen (Film!) sagen: seht her, versteht, lasst gewähren! Chacun à son goût. (Wie bei den Frauen ja stillschweigend.) Das Motiv ist verständlich und nichts dagegen zu sagen.

Hier das dünkt mir mehr. Man ist vom Thema abgewichen. Man hat sich in "Leidenschaft" dazu hinreissen lassen, mehr zu tun, als eben nur erträglich. Man sagte mehr als nur: "Lasst uns in Ruh". Man wirft sich in die Brust: da: der geistreiche Platen, der grosse Winkelmann, der berühmte Wilde. Sehr, die waren alle so! Solche Leute! (Ein kleiner Schluss: gerade die geistreichsten Leute. Also: Apothese. "Gerade".)

Es ist da eine werbende Geste. Es klingt da etwas wie Propaganda durch. Das verstimmt. (...)

Der Film ist dramaturgisch nicht gelungen, rein als Film. Nur das Thema hält ihn. Die leisen Schwächen von "Prostitution" sind hier vergröbert, zum System gewählt. Man "malt" immerfort. (Beispiel: das endlose Geigenspiel im 1. Akt.) Es geht nichts vor. Das ist im Film zu vermeiden, trotz allem "Literarischem". (Eine noch zu schreibende Filmdramaturgie wird es aufdecken.) Die Technik der Grossaufnahmen beherrscht Oswald erstklassig. Wenn auch Veidts Gesichtsausdruck und seine Augen unerhört für den Film sind, auf die Dauer von sechs langen Akten "gewöhnt" man sich daran. Bei der Schlägerei (Spezialität?) stand einer davor. Die Darsteller sind denkbar glücklich gewählt. Reinhold Schünzel, einer unserer allerbesten Filmschauspieler, (Spezialität: Zuhälter, Erpresser, Apache) verblüfft durch Kleinigkeiten, insbesondere durchgeführte Bewegungen, Nuanzen. Er spielt nicht, er lebt. Es geht ein Raunen durch's Publikum, wenn er erscheint. Veidts Spiel ist milieuecht durchgeführt ("huch nein!"); stiess auf tiefgehendes Verständnis. Anita Berber hat man noch zu sehr von "Prostitution" im Gedächtnis, dass man ihr ihre neue Rolle nicht recht glaubt. Alles übrige war zweckentsprechend besetzt.

Wenn das von den Grenzfällen stimmt, so hätten klassisch-schöne Menschen in dem Film diesen oder jenen nachdenklich stimmen können. Hier nimmt man einen Degoût mit. Und Mitleid, dass das die "anderen" nicht auch sehen. » (B. E. Lüthge, Film-Kurier, Nr. 1, 31.5.1919)



Anders als die andern

«Ein heikler Film. Im Lessing-Theater am Gänsemarkt wird zurzeit ein Film gegeben, der sich "Anders als die Andern" benennt und das Problem der Homosexualität zum Vorwurf hat. Es ist am Freitag dort bei der Erstaufführung zu einem starken Widerspruch des Publikums, ja, zu Empörungskundgebungen gekommen, und da es Pflicht der Presse ist, nach bestem Ermessen und vorsichtiger Abwägung zu der moralischen oder unmoralischen Wirkung einer Darbietung Stellung zu nehmen, wenn das öffentliche Interesse, und sei es durch einen Irrtum der Beteiligten, verletzt erscheint, so sahen wir uns gestern nachmittag den Film einmal ;an, versetzten uns ganz in den leicht verletzten geistigen Habitus eines prüden Beschauers, um auch dem empfindlichsten Gemüt gerecht werden zu können. Wir waren demnach keineswegs objektiv, sondern wie man will, mehr oder weniger als dies. Wir hatten also ein zimperliches um das Wohl der Öffentlichkeit aufs äusserste besorgtes Kriterium, und sassen da.

Wir schicken voraus: Homosexualität ist eine in Deutschland ganz besonders unglückliche Naturanlage. Denn der § 175 verbietet sie unter schwerer, entehrender Strafe, wohl verstanden aber nur unter Männern, nicht bei Frauen, die sicher ebenso, wenn nicht stärker, verbreitet ist als die männliche. Das Gesetz macht, konstruiert also ein moralisches Verbrechen, das von Natur aus als solches nicht vorhanden ist, sondern nur eine Variation der Geschlechtsveranlagung darstellt, die an sich wohl krankhaft erscheint, aber durchaus keine Krankheit ist. Niemand hat das Recht, eine Abnormität zu bestrafen; für die der Betroffene nichts kann, zumal der § 175 sicher mehr Unheil angerichtet hat als wenn er nicht vorhanden wäre. Denn kein wirkliches, aus roher Gesinnung und Menschenunwürdigkeit entstandenes Verbrechertum ist so dem Denunziantenwesen und Erpressertum ausgesetzt wie eben die Homosexualität. Und wenn ein Paragraph, auf dem nicht die Todesstrafe steht, zu soviel Selbstmorden trieb wie gerade dieser, so ist er unsittlich. Zudem sind Homosexuelle oft genug feingeistige Leute, denen eine körperliche Annäherung sowohl des Mannes wie des Weibes im Grunde widerlich ist, die ein höchst sensibles Seelenleben führen und eigentlich mit ihren Leistungen schon von vornherein die Anspeiungen parieren könnten. Das weibische Getue vieler Homosexueller indessen stösst selbstverständlich auch uns ab, auch preisen wir hiermit keineswegs das Anormale zu ungunsten des Normalen, wir verlangen nur, dass die Ungerechtigkeit, die darin liegt, dass man eine schon als Unglück zu betrachtende Veranlagung entehrend bestraft, aus dem Gesetzbuch verschwinde.



Dies ist auch der ehrliche und, wie wir uns nach strengstem Massstab überzeugt haben, durchaus wissenschaftliche Zweck des Films im Lessingtheater, ja wir erkennen im Gegenteil an, mit wieviel Dezenz, Takt und Haltung das Problem dort keineswegs breitgetreten, sondern ernst erörtert und sachlich wie künstlerisch in gediegener Form einem Publikum dargeboten wird, von dem die Direktion des Lessing-Theaters den sachlich-wissenschaftlichen Anstand voraussetzt, den es in seiner Masse nicht hat, nicht haben kann. Dies ist der einzige Vorwurf, der die Leitung trifft, neben dem, dass sie letzthin unter dem weit dehnbaren Begriff der Aufklärungsfilms doch manche Schlüpfrigkeit mit durchgehen liess – bei welchen Gelegenheiten allerdings niemand pfiff oder sich sonstwie gegen Un- und Halbmoral "einsetzte". Uns scheint der Widerspruch gegen diesen wirklich rein wissenschaftlich gehaltenen Film, in welchem der bekannte Sexualforscher Max Hirschfeld selbst die Rolle des Arztes spielt, entspringt törichter Voreingenommenheit gegen ein solches Thema überhaupt, einerlei, ob es dezent dargestellt wird oder nicht. Und die Furcht, es könnten Jugendliche durch diese Darbietung in abnorme Gefühlswelten geraten, ist aus zwei Gründen lächerlich: erstens kann ein Film, selbst wenn er die Richtung auf das eigene Geschlecht priese (was doch gar nicht geschieht), in keinem Menschen eine Veranlagung erzeugen, die er nicht hat, zweitens wird hier das Leiden dieser abnorm Fühlenden so erschütternd erwiesen, dass eine krasse Abschreckung erreicht wird, also ein nur moralischer Zweck, der von der Bühne aus nicht möglich wäre.

Die erste Stufe des Urteils ist die der Partei, die zweite die der Einsicht, die dritte die der Übersicht und Gerechtigkeit. Suchen wir auf der höchsten zu stehen und überlassen wir das Geschrei nach unüberlegter Moral denen, die erwiesenermassen eine unglückliche Veranlagung, die sie nicht verstehen und ablehnen, in eine Linie setzen mit der Unmoral, die sie sehr gut verstehen und nicht ablehnen ... » ( L. B., Neue Hamburger Zeitung, zit. nach Lichtbild-Bühne, Nr. 36, 6.9.1919)



Anders als die andern

«Gar nützlich sehr und angenehm Ist stets das Sexualproblem. Dem einen dient’s für Seel‘ und Leib Zu allbeliebtem Zeitvertreib, Der andere macht, wenn es sich trefft, Damit ein glänzendes Geschäft. So leuchten denn von allen Teilen Der buntbeklebten Litfasssäulen In ganz gigantischem Formate Die allerneusten Filmplakate. Hier lockt die "Prostitution" Uns alle mit Sirenenton, Dort gibt’s für Männer und für Frauen "Die Sünde einer Nacht" zu schauen, Hier ist gar "Sünd’ges Blut" zu sehn, Doch "Sündenlust" ist auch ganz schön; "Die Kupplerin" winkt in der Nähe, Dort lädt man uns zu " Lillis Ehe", Ich wette, ebenso gefällt’s, Besieht man sich " Venus im Pelz". Man sieht " Das mysteriöse Bett", "Das Gift im Weib" ist grad‘ so nett Und "Nach dem Mann der Schrei" nicht minder; Das "Fräulein Mutter" schreit um Kinder. Wie lieblich wirkt in diesem Tanz Der gute, alte "Myrthenkranz". Natürlich erst, wenn er zerrissen, Wie wir durch "Die Verführten" wissen. Daneben fällt uns auf beim Wandern Ein Drama "Anders als die Andern". Auch dies betätigt mit Genuss Sich ganz in Sexualibus. Und wenn ich sehe, wie ringsum So einstürmt auf das Publikum In wilder Flut Erotik nur Unter dem Mantel der Kultur, Denk' ich: "Wenn ich ‘nen Film nur wüsst', Der 'Anders als die Andern' ist!" » (Job, Film-Kurier, Nr. 13, 20.6.1919)
// Kritiken zitiert nach www.filmportal.de


Anmerkungen : "Aufklärungsfilm" über die Homosexualität; einige Szenen sind erhalten geblieben in dem Film "Gesetze der Liebe" von Magnus Hirschfeld, 1927


Neue Restaurierungen des Filmmuseums (München):
"(...) ANDERS ALS DIE ANDERN überlebte nur in einer ukrainischen Version einer Kurzfassung, die wiederum von der russischen Zensur gekürzt wurde. Hier hat das Filmmuseum anhand von Dokumenten, Zensurprotokollen und Standfotos die originale Fassung des Filmes wiederhergestellt, der das einzige erhaltene Beispiel der vielen Aufklärungsfilme darstellt, mit denen Richard Oswald Ende der zehner Jahre bekannt wurde. - ANDERS ALS DIE ANDERN ist der erste Film der Filmgeschichte, der sich explizit mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzt und dementsprechend von der deutschen Zensur sofort verboten wurde. Er erzählt die Geschichte eines Violinvirtuosen, der sich in seinen begabten Schüler verliebt, aber einem Erpresser in die Hände fällt und wegen Verstosses gegen den Paragraphen 175 vor Gericht landet. Der Sexualforscher und Co-Autor Dr. Magnus Hirschfeld tritt selber auf und fordert die Abschaffung des Paragraphen 175, der Homosexuelle kriminalisiert." (Filmmuseum München, 2005)



Zensur des Films

Mit ANDERS ALS DIE ANDERN hat Richard Oswald den ersten Homosexuellen-Film der Filmgeschichte geschaffen. Der Film wurde am 18.8.1920 verboten ,mit der Massgabe, dass die Vorführung zugelassen wird vor bestimmten Personenkreisen, nämlich Ärzten und Medizinalbeflissenen, in Lehranstalten und wissenschaftlichen Instituten". Solche Vorführungen fanden auch tatsächlich im Berliner Institut für Sexualforschung von Magnus Hirschfeld statt.

Dass sich von Oswalds Film überhaupt Material erhalten hat, ist einem anderen Film zu verdanken: Magnus Hirschfeld drehte 1927 einen Dokumentarfilm, GESETZE DER LIEBE, und schnitt für die Schlussepisode eine Kurzfassung VON ANDERS ALS DIE ANDERN; zwar verlangte abermals die Zensur, genau diese Episode zu entfernen; doch hat die Passage in einer ukrainischen Exportkopie die Zensur überlebt und gibt nun, mit einem Viertel der Länge der ursprünglichen Fassung, zumindest einen Eindruck von Richard Oswalds Aufklärungs-Film, der auf einzigartige Weise künstlerische Qualität und sozialpolitisches Engagement verbindet.

Ein Genre unter Zensur: die Sitten- oder Aufklärungsfilme im Deutschland der Stummfilmzeit

Mit ANDERS ALS DIE ANDERN und DER EWIGE ZWEIFEL stellt ARTE zum ersten Mal im Fernsehen einen Regisseur vor, der zu seiner Zeit sehr populär und in vielen Bereichen bewandert war, Filmproduzent und Künstler in einer Person. Mit einem sicheren Instinkt für publikumswirksame Stoffe, aber auch grosser Seriosität, drehte Richard Oswald als Pionier (siehe auch DER EWIGE ZWEIFEL S. 27) sogenannte Aufklärungsfilme: Keine nüchternen Lehrfilme, sondern Sexualaufklärung eingebettet in eine spannende Geschichte.

Von 1916 bis 1921 entstanden u.a. ES WERDE LICHT (Teil 1-4), TAGEBUCH EINER VERLORENEN, ANDERS ALS DIE ANDERN, DIE PROSTITUTION, DIE SICH VERKAUFEN und SÜNDIGE MÜTTER. Bei jedem dieser Sittenfilme holte sich Oswald kompetente Beratung, u.a. von Magnus Hirschfeld, der ebenfalls Pionierleistungen auf dem Gebiet der Sexualaufklärung leistete.

Nachdem schon während des Ersten Weltkriegs Geschlechtskrankheiten ein sozialpolitisch brisantes Thema geworden waren, entstand ein grosser Aufklärungsbedarf, dem verschiedene Kulturfilmer nachzukommen versuchten. Als nach dem Krieg vorübergehend die Filmzensur aufgehoben war, sprossen in der Nachfolge von Oswalds erfolgreichen Aufklärungsfilme jede Menge anderer Sittenfilme aus dem Boden, die durch die Verheissung lasziver Titel auf schnellen kommerziellen Erfolg aus waren: DAS PARADIES DER DIRNEN, SKLAVEN DER LIEBE oder DER RUF DER SÜNDE. Oswald wurde von der zeitgenössischen Kritik für diese Flut pseudo-aufklärerischer Sittenfilme immer wieder verantwortlich gemacht, obwohl seine Filme künstlerisch weit über dem Niveau dieser Filme lagen und er von Seiten progressiver Mediziner nachhaltige Unterstützung erfuhr.

Zur gezeigten Fassung: Rekonstruktion im Münchner Filmmuseum


Das Münchner Filmmuseum machte sich mit Hilfe von schriftlichem Sekundärmaterial, wie der erhalten gebliebenen Zensurkarte und Protokolle von Verhandlungen der Film-Oberprüfstelle, an eine Rekonstruktion; dabei wurden die ukrainischen Zwischentitel gegen die deutschen ausgetauscht und leichte Korrekturen im Szenenablauf vorgenommen. Damit ist die Episode in Magnus Hirschfelds Film wiederhergestellt.

Die Originalfassung war in ihrer Mischung aus inzenierten und semidokumentarischen Elementen weit komplexer; zentral ist ein Vortrag von Magnus Hirschfeld, dem Paul Körner beiwohnt, und der in einem alle Konventionen sprengenden Text von zwei Minuten Lese-Länge wiedergegeben wurde. Da sich alle Texte der Originalfassung erhalten haben, wäre es möglich, eine Studienfassung zu erstellen, die mit erklärenden Zwischentiteln und Photos die komplexe Erzählstruktur des Films nachzeichnet und seine aufklärerische Intention vermittelt: ,Im Mittelpunkt steht der Vortrag. Um ihn herum rankt sich eine schlichte Lebensgeschichte..." beschrieb Oswald sein ,sozial-hygienisches Filmwerk'.

Zur neuen Musik

Bernd Schultheis, der junge Komponist, der schon für Stummfilme von René Clair und Michael Kestesz Musiken komponierte, schrieb zu dieser Studie eines Lebens in sozialer Diskriminierung eine Musik, die äusserst subtil Gefühlszustände artikuliert und die in ihrer Modernität das zeitkritische Engagement von Richard Oswald unterstreicht. Geschrieben für eine Trio-Besetzung
Der Film, der allgemein nur als sozialpolitisches Dokument Erwähnung findet, wird durch diese Musik zu einer veritablen cineastischen Entdeckung, die durch ihre konzentrierte Erzählung und die grosse schauspielerische Leistung von Conrad Veidt beeindruckt. (ARTE)

Der Fall Anders als die Andern

Das Ende des ersten Weltkriegs bedeutete in Deutschland zugleich auch ein Ende der staatlichen Filmzensur. Der Bedarf nach spektakulären Themen und riskanten Darstellungen liess den Markt für sog. Sittenfilme boomen. Prostitution, Geschlechtskrankheiten und Drogenmissbrauch waren beliebte Sujets solcher Aufklärungsfilme. In diesem liberalen Klima konnte zunächst auch Anders als die Andern, der als erster Schwulenfilm Deutschlands gilt, veröffentlicht werden. Sein Regisseur Richard Oswald und der am Drehbuch beteiligte Hirschfeld verstanden ihn als Anklage gegen den berüchtigten § 175, der unbescholtene Bürger kriminalisierte und häufig in den Ruin oder Selbstmord trieb.
Magnus Hirschfeld, berühmter Sexualforscher und Verfechter einer Linie, die Homosexualität als Naturveranlagung verstand, die nicht bestraft werden könne, hatte bereits 1897 vor dem Reichstag für eine Abschaffung des Paragraphen plädiert. In Anders als die Andern tritt er nun selbst vor die Kamera und legt seine Ansichten dar, die durch das tragische Schicksal Paul Körners dramatisch unterstrichen werden.
Der Film wird ein kommerzieller Erfolg, nicht zuletzt wegen der Kontroversen, die seine Aufführung begleiten. 1920 wird jedoch die staatliche Filmzensur wieder eingeführt und der Film verboten. Zur Begründung heisst es, man versuche "aus Gründen der Volkserhaltung eine Beeinflussung gleichgeschlechtlicher Neigungen zu verhindern". Die Vorführung ist von nun an nur noch vor einem Publikum aus "Ärzten und Medizinalbeflissenen" gestattet, unter ihnen auch Hirschfeld, der den Film an seinem Berliner Institut für Sexualforschung zeigt.
1927 ist es wiederum Hirschfeld, der den Film der Öffentlichkeit zugänglich zu machen versucht. Er kürzt den Film von 90 auf 40 min und fügt ihn unter dem Titel "Schuldlos geächtet: Tragödie eines Homosexuellen" als Schlussepisode in seinen Aufklärungsfilm Gesetze der Liebe ein. Im Oktober desselben Jahres wird auch dieser Film verboten. Die Film-Oberprüfstelle erklärt in ihrem Urteil, die "homosexuelle Propaganda [sei] insbesondere mit Rücksicht auf die heranwachsende Jugend und die Möglichkeit, schlummerndes Sexualempfinden auf die Homosexualität abzuleiten [...] geeignet, die Volksgesundheit zu schädigen." Erst nach Kürzung der Episode wird der Streifen wieder freigegeben.
1933 schliesslich wird Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft von den Nazis geschlossen, die im Institut gelagerten Kopien des Films zerstört. Die Kartei seiner Patienten und Unterstützer wird zur Todesliste vieler Homosexueller im Dritten Reich. Hirschfeld kehrt nach einem Aufenthalt in der Schweiz nie mehr nach Deutschland zurück, Regisseur Richard Oswald, Conrad Veidt und Reinhold Schünzel emigrieren ebenfalls in den folgenden Jahren. Der § 175 bleibt bis ins Jahr 1964 unverändert bestehen und erst 1994 endgültig abgeschafft.
Lange Zeit galt Anders als die Andern als verschollen, bis 1979 eine ukrainische Exportkopie von Gesetze der Liebe gefunden wurde, in der "Schuldlos geächtet" noch enthalten war. Dieses 40-minütige Fragment ist die einzige Version des ersten deutschen Schwulenfilms, die heute erhalten ist. (StummFilmMusikTage Erlangen)

Literatur Hinweise * B. E. Lüthge, Film-Kurier, Nr. 1, 31.5.1919 (Kritik)
* Job, Film-Kurier, Nr. 13, 20.6.1919 (Kritik)
* L. B., Neue Hamburger Zeitung, zit. nach Lichtbild-Bühne, Nr. 36, 6.9.1919 (Kritik)
GLAPM19 11



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Filmportal.de 20661
IMDb - International Movie Data Base Nr. tt0009878
KinoTV Database Nr. 17944


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